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Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition)

Titel: Irondead: Der zehnte Kreis (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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erklären, aber ich nehme an, dass sie sich nur dann zu größeren Mechanismen zusammenschließen, wenn es nötig ist.«
    Mulligan nickte hastig, aber auch ohne jegliches Anzeichen von Verständnis.
    Während ich mit dem einen Auge Chip beobachtete, entdeckte ich mit dem anderen eine große Maschine … auf deren Anblick ich aber auch gerne verzichtet hätte. Es war die Spinne aus dem Schlachthof. Das achtbeinige Monster hockte nur ein kleines Stück entfernt kopfunter an einem wehenden Eisenvorhang und starrte uns aus ihren kalten Glasaugen an. Aber sie rührte sich nicht.
    Was mich allerdings kein bisschen beruhigte.
    Chip fing plötzlich an zu rennen, und mein Herz machte schon wieder einen erschrockenen Sprung, als ich sah, wohin: Er rannte nicht nur geradewegs auf die Spinne zu, sondern begann auch heftig mit beiden Armen zu gestikulieren, wie um die Aufmerksamkeit des mechanischen Monstrums auf jeden Fall auf sich zu ziehen.
    Er hatte Erfolg. Die Spinne starrte uns noch eine Weile durchdringend an, dann turnte sie herum und begann mit langsamen staksenden Schritten auf den Jungen zuzugehen.
    »Um Gottes willen«, hauchte Mulligan. »Was?« Seine Hand glitt nach hinten unter das Hemd, um den Revolver unter dem Hosenbund hervorzuziehen, doch Watson umklammerte rasch sein Handgelenk und hielt es fest.
    »Nicht!«, sagte er erschrocken. »Es ist zu spät! Und er weiß, was er tut.«
    Zumindest eine dieser beiden Behauptungen bezweifelte ich doch stark, bei der anderen hatte er vollkommen recht. Die Spinne hatte Chip fast erreicht, als sie anhielt und sich auf die hinteren Beinpaare aufrichtete, wie um den Jungen mit ihren vorderen Gliedmaßen zu umarmen. Endlich kam wohl auch Chip zur Vernunft, denn er blieb stehen, starrte das mehr als mannshoch über ihm aufragende Ungeheuer aus aufgerissenen Augen an und fuhr dann herum, um sein Heil doch in der Flucht zu suchen.
    Natürlich war es zu spät. Er kam gerade einen Schritt weit, bevor er über seine eigenen Füße stolperte und so hart auf die Knie fiel, dass ich seinen Schmerz fast körperlich mitempfand. Im nächsten Moment kippte er haltlos nach vorn und konnte seinen Sturz gerade mit seinem unverletztem Arm abfangen, das aber um den Preis, dass sich die Spinne nun über ihn warf und ihre dolchlangen Giftzähne nur umso tiefer in seinen Nacken graben konnte.
    Chip brüllte vor Schmerz und begann zu zucken, als hätte er einen heftigen elektrischen Schlag bekommen. Die Spinne richtete sich wieder auf und zog die Klingen aus seinem Nacken. Zwei dünne silberfarbene Fäden verbanden sich mit Chips Fleisch, und als der Junge herumrollte und ich in sein Gesicht sah, da wurde mir auch mein Irrtum klar.
    Er war nicht gestürzt, und er hatte auch nicht zu fliehen versucht. Vielmehr hatte er sich der Spinnenmaschine angeboten , um ihr ihr schreckliches Tun noch zu erleichtern.
    »Nein«, wimmerte Mulligan. »Aber warum … warum hat er das getan, dieser dumme Junge?«
    Die Spinne zog sich ein kleines Stück zurück, packte Chip mit den gebogenen Mundwerkzeugen bei den Fußknöcheln und begann ihn rücksichtslos hinter sich herzuziehen. Ich starrte unverwandt weiter sein Gesicht an, und was ich darauf las, das machte alles nur noch viel schlimmer. Er litt große Schmerzen, das war unübersehbar, und doch wirkte er unter dieser gepeinigten Grimasse … glücklich . Ein anderes Wort dafür fiel mir nicht ein, so unpassend mir dieser Ausdruck auch schien.
    »Das ist die falsche Fragestellung, Mulligan«, sagte Watson. »Die Frage muss lauten: Was für ein erbärmliches Leben muss dieser arme Junge wohl geführt haben, dass ihm ein solches Schicksal verlockend erscheint?«
    »Geben Sie acht, dass Adler so etwas nicht hört, Doktor«, sagte ich. »Sonst hält er Sie am Ende auch noch für einen Freiheitskämpfer und Kommunisten.«
    Watson warf mir einen sonderbaren Blick zu und setzte sich in Bewegung, um der Spinne – in respektvollem Abstand– zu folgen. »Wenn das bedeutet, es verwerflich zu finden, dass Kinder ohne die Chance auf eine Zukunft groß werden und nur die Wahl haben, sich zu Tode zu arbeiten oder im Gefängnis oder am Galgen zu enden, dann lasse ich mich gerne einen solchen nennen«, sagte er grimmig.
    Die Spinne zerrte den Jungen rückwärtskrabbelnd weiter, und ich musste mich nun wirklich beherrschen, um nicht etwas sehr Dummes zu tun, als ich sah, wie rücksichtslos sie dabei vorging. So zerrte sie Chip nicht nur brutal über den mit allerlei harten und

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