Irrfahrt
Aufmerksamkeit. «Schönschön», brummte Zechmeister nur. Damit war Gerber entlassen.
Auch Leutnant von Heyde interessierte sich herzlich wenig für Gerbers Beobachtungen. Seine Aufgabe als NSFO der Flottille nahm ihn stärker in Anspruch als die Tätigkeit auf Boot VII. Gerbers technische Erläuterungen hörte er zerstreut und gelangweilt an. «Die Führung der Schiffe ist heute in erster Linie eine politische Aufgabe», dozierte er. «Die technischen Probleme sind ganz nebensächlich, Gerber. Wir haben - auf meine Veranlassung schon einige Herren zu den Volksgrenadieren geschickt, weil sie das nicht begreifen wollten.»
Dabei zeigte Heyde das hochmütigste Gesicht, dessen er fähig war. Was auf den Booten vor sich ging, welche Meldungen Einfluß auf die Stimmung an Bord hatten, worüber die Besatzungen sprachen, was sie über die Invasion, ihre Offiziere, die Seekriegsleitung, das Oberkommando der Wehrmacht oder die Vergeltungswaffen dachten, darüber glaubte der Leutnant bestens unterrichtet zu sein.
Gerber ließ den Schnüffler in diesem Glauben. Er war auch nicht neugierig zu erfahren, woher der NSFO seine Weisheiten hatte.
Abends war Gerber als Wachhabender eingeteilt. Beinahe seine einzige Pflicht bestand in der Beaufsichtigung des Niederholens der Flagge. Zur festgesetzten Minute wurde auf dem Führerboot ein Signal gepfiffen, und gleichzeitig zogen alle Boote ihre Flagge ein. Der Matrose vom Dienst stand auf dem Achterdeck schon bereit.
Sinnend schaute Gerber über den abendlichen Hafen, den er nun seit zwei Jahren kannte. Auf den ersten Blick zeigte Saint-Malo das gewohnte Bild. Aber der Schein trügte; man brauchte nur genauer hinzusehen.
An der gegenüberliegenden Pier hatte jahrelang das Urlauberschif f aus Jersey seinen Liegeplatz. Jetzt ragten nur die Mastspitzen aus dem Wasser. Vor einigen Wochen war das Schif f durch einen überraschenden Fliegerangrif f versenkt worden. Kurz nach dem Ablegen des vollbesetzten Dampfers stieß ein Flugzeug, offenbar mit Hilfe eines Rotterdam-Gerätes, durch die Wolkendecke, warf eine gut gezielte Bombe und zog sofort wieder nach oben, ehe die Flak zu schießen begann. Mehrere Männer wurden dabei verwundet. Solchen Angriffen waren die Fahrzeuge bei ihrer meist unvollständigen oder technisch überholten Bewaffnung hilflos ausgeliefert.
Etwas achteraus im Hafenbecken von Parame befand sich der Liegeplatz von Schlepper «Hermes». Gerber dachte an den jungen Steuermannsgasten, der einmal dieses kräftige Fahrzeug in der Schleuse durch Rammstoß versenken wollte. Jetzt lag die «Hermes» längst auf Grund, ebenfalls von Bomben vernichtet.
Dahinter begann der traditionelle Liegeplatz der Vorpostenboote. Zwei Schiffe lagen an der Pier, vierzehn hatte die Flottille einst besessen. Eins nach dem anderen war bei Positionsfahrten von britischen Fregatten oder Zerstörern abgeknallt worden, ohne sich gegen die schnellen und schwerbewaffneten Gegner wehren zu können.
Im nächsten Hafenbecken hatten die Minensucher der 46. Flottille ihren Stammplatz. Boot 00 fehlte. Auch andere Boote der Flottille, Logger oder kleine Fischdampfer, waren bei nächtlichen Unternehmungen gesunken.
An der Kohlenpier gegenüber hatte noch Anfang Juni hoher Besuch gelegen, das Torpedoboot «Möwe». Inzwischen war es durch Bomben im Hafen von Le Havre versenkt worden. Zerstörer, Torpedoboote und Schnellboote waren beinahe die einzigen Kriegsfahrzeuge, die noch mit Aussicht auf Erfolg in der Nähe der anglo-amerikanischen Landeköpfe operieren konnten. Erbarmungslos wurden sie gejagt und zum großen Teil durch gezieIte Bombenwürfe der fliegenden Festungen ausgeschaltet. Ihre Wracks verstopften die Hafenbecken zwischen Brest und Le Havre.
Kaum die Hälfte der Kriegsfahrzeuge, die zur Jahreswende in Saint-Malo lagen, war noch vorhanden. Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich auszurechnen, wann bei dem gegenwärtigen Kräfteverhältnis auch die andere Hälfte auf dem Grunde des Meeres liegen würde. Das deutsche Fußvolk zur See hatte gegen die Gardeartillerie der Roval Navy keine Chance.
An der Landfront sah es nicht besser aus. Im Osten war der gesamte Mittelabschnitt auf mehreren hundert Kilometern Frontbreite zusammengebrochen. «Doppelt so viele Gefangene wie bei Stalingrad», sagte ein Maat. Niemand fragte ihn, woher er das wußte. Sogar dem Wehrmachtbericht mit seinen ewig wiederkehrenden Phrasen gelang es nicht, die schwere Niederlage zu beschönigen. Bald mußten die
Weitere Kostenlose Bücher