Irrfahrt
ersten Ortsnamen aus Ostpreußen auftauchen.
Invasionsfront. Die Alliierten landeten fast ungehindert ihre Truppen, durchstießen die Halbinsel Cotentin und hatten bereits vier deutsche Divisionen abgeschnitten. Wenn die brüchige Front in der Normandie einstürzte, war Saint-Malo eine Mausefalle, aus der es keinen Ausweg mehr gab.
Nur ein Wunder kann uns retten, dachte Gerber. Aber Wunder gibt es nur im Kindermärchen. Dieser Krieg ist grausige Wirklichkeit. Jeder Tag bringt neue Leiden, fordert neue Opfer. Der Krieg ist verloren ...
In diesem Augenblick pfif f das Führerboot zum Niederholen der Flagge. Gerber salutierte, als der Matrose die Flagge einzog. Aber mit seinen Gedanken war er ganz woanders.
Gerber befand sich zehn Tage an Bord, als die gesamte Flottille zum Auslaufen befohlen wurde. Britische Seestreitkräfte, vermutlich Zerstörer, hatten in den letzten Nächten den Seeverkehr zwischen dem Festland und den Kanalinseln völlig lahmgelegt. Die Handelsschiffe auf den Inseln waren mit wichtigen Versorgungsgütern beladen, konnten aber nicht auslaufen. «Hein» sollte hier gründlich Wandel schaffen.
Schon das Ablegemanöverwar für Gerber etwas Neues. Ein Schif f mit zwei Schrauben und zwei Maschinen besaß große Möglichkeiten zu manövrieren. Staunend beobachtete er, mit welcher Leichtigkeit der Kommandant sein Fahrzeug von der Pier ablegte. Dutzende von Männern standen an Deck angetreten, obwohl nur wenige für das Manöver gebraucht wurden.
In flottem Tempo gewannen die Boote die hohe See. Hier machte es keine Schwierigkeit, im Verband zu fahren. Alle Boote waren von gleichem Typ und Baujahr und liefen bei «halbe Fahrt» gleich schnell. Nur selten war eine geringe Änderung der Fahrtstufe erforderlich.
Als die Nacht hereinbrach, wurde SonderverpfIegung ausgegeben. Meist verteilte man bei dieser Gelegenheit eine kleine Packung Waffeln oder eine Rolle Drops. Heute gab es Schoka-Kola, 1944 ein rarer Artikel. Mißtrauisch drehten die erfahrenen BesatzungsmitgIieder die runde Pappschachtel in der Hand. Das bedeutete nichts Gutes! Sie hatten gelernt, jeden Einsatz und seine Gefahren nach der jeweiligen Sonderzuteilung abzuschätzen. Wenn Drops verteilt wurden, konnte man eine ruhige Nacht erwarten. Schoka-Kola war ein sicheres Zeichen, daß auf See dicke Luf t war.
Manche bissen gleich in die bittere, schwarzbraune Masse. Gerber teilte die beiden harten runden Tafeln in je acht Stücke und nahm sich vor, jede halbe Stunde ein Stück zu essen. Größere Portionen waren kaum zu empfehlen. Wer eine ganze Tafel auf einmal aß, bekam Herzklopfen.
Kurz nach Mitternacht befand sich die Flottille auf halbem Wege zwischen Saint-Malo und Guernsey. An Steuerbord lag die Insel Jersey, auch die kleineren Kanalinseln waren an ihren Feuerzeichen schon zu erkennen. Vielleicht geht alles gut, dachte Gerber, vielleicht hat man die Schokolade umsonst ausgegeben.
In diesem Augenblick blitzte ein halbes Dutzend Leuchtkugeln über den Booten auf. Alles war plötzlich taghell. Das grellgelbe Licht mit seinem unwirklichen Schein beleuchtete Boote und Menschen so deutlich, daß sogar die Bartstoppeln im Gesicht des Nachbarn zu sehen waren.
Sekunden später wurden die Boote unter Feuer genommen. Überall sprangen die Fontänen hoch, während weitere Leuchtgranaten in der Luf t explodierten.
Gerber erhielt Befehl, mit einem großen, fest montierten Brückenglas von vierundzwanzigfacher Vergrößerung nach dem Feind Ausschau zu halten.
Südlich Guernsey machte er fünf Zerstörer aus. Sie waren aus der Kiellinie zwei Strich nach Backbord abgefallen, standen exakt nebeneinander und brachten ihre gesamte Artillerie zum Tragen.
Hinter den Zerstörern blitzte noch weiteres Mündungsfeuer auf. Gerber strengte seine Augen an. Schließlich glaubte er die Silhouette eines Kreuzers zu erkennen, der die Zerstörer begleitete und eine AuffangsteIlung bildete. Nach der Anordnung der Geschütztürme auf der Back schien es ein Fahrzeug der Dido-Klasse zu sein. Der Kreuzer feuerte über seine Zerstörer hinweg Leuchtgranaten, so daß die günstiger postierten Fahrzeuge des Verbandes ihre Artillerie voll einsetzen konnten. Ein geradezu klassisches Manöver. Der Flottillenchef ließ abdrehen und nebeln. Viel Zweck hatte das Nebelausbringen nicht. Es war anzunehmen, daß die modernen Zerstörer mit Radar-Feuerleitung schossen. Aber der Gedanke, nicht völlig hilflos zu sein, wirkte schon beruhigend. Außerdem kamen die Zerstörer
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