Irrfahrt
Konservenbüchsen, überstiegen alles, was Gerber bisher gesehen hatte, und natürlich auch alles, was in den offiziellen Aufstellungen angegeben wurde. Ein hochbegabtes Verpflegungsgenie war hier am Wirken. Die Kohlenbunker wurden keineswegs den Vorschriften entsprechend unter Berücksichtigung der Stabilitätsverhältnisse in einer bestimmten Reihenfolge entleert. Der Kesselmaat an Steuerbord handhabte die Entnahme anders als der Verantwortliche auf der Backbordseite.
Vom doppelten Satz an Signalflaggen fehlten drei wichtige Exemplare. Dafür besaß das Boot eine alte Traditionsfahne der kaiserlichen Marine und sogar die Flagge für einen Großadmiral. Ein so hoher Herr hatte sich noch nie auf das Boot verirrt. Die anderen Admiralsflaggen wurden schon eher einmal benötigt. Admiräle gab es 1944 in erheblichen Mengen, während die Zahl der Kriegsfahrzeuge ständig abnahm.
Als Gerber auf der Brücke herumkrebste, wurde auf dem Führerboot der Flottille «Seite» gepfiffen. Ein älterer, breitschultriger Mann mit den Rangabzeichen eines Fregattenkapitäns betrat das Fahrzeug. Seine Erscheinung wirkte reichlich unmilitärisch. Zum blauen Jackett trug er eine indigofarbene Hose, die offenbar von einem Zivilanzug stammte und durch mehrfaches Reinigen ein wenig eingelaufen war.
Dieser Mann war der Flottillenchef. Er hieß Breitenbach und war nur ein Reserveoffizier. Die Lords nannten ihn «Hein». Viele dachten hierbei an Freund Hein mit seiner Hippe. Breitenbach führte gelegentlich riskante Unternehmungen durch, die den Tod vieler Männer zur Folge hatten. Zur Belohnung erhielt er das Eichenlaub zum Ritterkreuz; bei seinen unbeherrschten und heftigen Bewegungen schlenkerte die hohe Auszeichnung hin und her.
Im Frieden diente Breitenbach als Chef einer großen Filiale der Krankenkasse. Im Krieg diente er als Chef einer großen Flottille der Kriegsmarine. Im Frieden unterstanden ihm sieben Kassierer, die je eine Kasse verwalteten. Im Kriege unterstanden ihm sieben Kommandanten, die je einen Kahn verwalteten. Im Frieden forderte er von seinen Kassierern Meldung über die Belege. Im Krieg forderte er von seinen Kommandanten
Meldung über die Besatzungen. Im Frieden suchte er in seiner Filiale nach Rechenfehlern. Im Krieg suchte er mit seiner Flottille nach Minen. Im Frieden war er ein unbedeutender Mann, im Kriege war er ein bedeutender Mann. Im Frieden genoß er allseitiges Vertrauen; im Krieg war ihm alles zuzutrauen.
Die interessanteste Zahl im Handbuch war zweifellos die Mannschaftsstärke. Sechsundsiebzig Männer waren als normale Besatzung angegeben. Gerber holte sich die Stammrolle und ging die Namen durch. Hundertfünf Mann lebten auf dem Boot, also beinahe dreißig zuviel.
Zur Besatzung gehörten zwei Maate, die einen Torpedoleitlehrgang absolviert hatten. Mit ihrer wertvollen Spezialausbildung konnten sie hier gar nichts anfangen, ein Minensuchboot führte keine Torpedos.
Bei der hohen Überbelegung herrschte im Logis eine unglaubliche Enge; sogar in der Munitionslast mußten einige der zusätzlich aufgenommenen BesatzungsmitgIieder ihre Hängematten aufschlagen. Ein II WO war übrigens auch bei sechsundsiebzig Mann vorgesehen, wie Gerber mit Befriedigung feststellte.
Durch den Verlust zahlreicher Fahrzeuge besaß die Kriegsmarine im Sommer 1944 einen erheblichen Überbestand an qualifiziertem Personal. Rücksichtslos wurden die verfügbaren Boote voll Menschen gestopft. Die Kriegsmarine rettete sie damit vor dem General Heldenklau. Zumindest waren Männer wie Zechmeister und Kloss dieser Meinung. Fanatiker wie Breitenbach und Heyde erwarteten in aller Kürze eine rasante Neubelebung des U-Boot-Krieges, für die sie geeignete Männer einsatzbereit hielten. Breitenbachs Flottille hätte mit Leichtigkeit die Besatzungen für ein halbes Dutzend neuer U-Boote abgeben können.
Genau nach achtundvierzig Stunden meldete Gerber seinem Kommandanten, daß er die Besichtigung des Bootes abgeschlossen habe. Voller Spannung erwartete er nun eine strenge Prüfung und hoffte, einige seiner wichtigen Beobachtungen anbringen zu können. Zechmeister sollte ruhig merken, daß sein neuer II WO nicht aus Dummsdorf kam!
Der Alte stopfte umständlich seine Pfeife und setzte sie mit Gerbers gezücktem Streichholz in Brand. Daraufhin paffte er ein paar Züge und sah den Oberfähnrich einige Sekunden lang durchdringend an. Jetzt überlegt er sich bestimmt eine besonders knifflige Frage, dachte Gerber und steigerte seine
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