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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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Fortschritt.
    Mit der Verpflegung machte die Lagerführung nicht viele Umstände. Neben dem Lagertor wurden einige große Holzkisten abgeladen. Die Gefangenen mußten antreten, was bei dem ungeordneten Haufen eine halbe Stunde dauerte. Ein preußischer Feldwebel hätte das in zwei Minuten geschafft.
    Die Kisten enthielten zwei Sorten von Konserven: eine schwere Dose mit Bohnen in Tomatentunke, me at and beans, und eine leichte mit Keksen. Das Ganze nannte man eine C-Ration.
    Die leere Keksdose diente als Trinkbecher. Das Wasser kam in Kanistern ins Lager. Es schmeckte fürchterlich nach Chlor. Vor Seuchen hatte die Lagerleitung gewaltige Angst. Deshalb lag der Chlorgehalt des Wassers weit über den europäischen Normen.
    Angst hatte man auch vor dem Feuer. ÜberaIl standen Brandschutzeinrichtungen, obwohl es eigentlich nichts Brennbares im Lager gab. Aber das war nun einmal Vorschrift. Ein Obergefreiter, der Anfang der dreißiger Jahre in den USA gelebt hatte, brachte die Sache auf eine kurze Formel: «Vor drei Dingen haben die Amerikaner riesige Angst: vor Bazillen, vor dem Feuer und vor dem Kommunismus.»
    Allerdings stimmte die Reihenfolge nicht ganz. Die Angst vor dem Kommunismus war viel größer als die Angst vor Bazillen und Feuer zusammengenommen.
    Zwei Tage und zwei Nächte regnete es fast ohne Unterhrechung. Die kurzen Pausen zwischen den Schauern reichten kaum, um Trinkwasser zu holen oder die Latrine aufzusuchen. Alle hockten in den Zelten.
    Im Nachbarzelt, kaum einen Meter von Gerber entfernt, wurde lautstark und mit Ausdauer Skat gespielt. In regelmäßigem Salventakt klatschten die Karten auf eine harte UnterJage, nur gelegentlich unterbrochen von einer vollen Breitseite, wenn der Gewinner zur Kapitulation aufforderte. «Grün machen die Gänse im Mai ... », «Wer hat ihn vorn...». Immer dieselben Redensarten, immer dasselbe Spiel. Als der Nieselregen etwas nachließ, verholte sich Gerber auf eine andere Position.
    «Wir spielen um die Zeltmeisterschaf t in Dame», verkündete stolz ein untersetzter Feldwebel. «Jeder gegen jeden, immer fünfzig Partien.» Gerber taxierte die fünf Männer im Zelt. Auf jeden kamen zweihundert Spiele. Stur heil!
    Einige erzählten Erlebnisse und irgendwelche Geschichten, meist ohne rechten Witz. Die anderen hörten kaum zu, aber das störte den Erzähler nicht. Es kam ihm nur darauf an, die Zeit totzuschlagen. Essen und Schlafen, Verpflegungsempfang und Trinkwasserholen waren die einzigen Beschäftigungen.
    Im nächsten Zelt spielten sie Poker. Mit französischem Geld, das nun wertlos geworden war. Die großen Lappen dienten als Einsatz. Als ein Insasse durch Bluff die gesamte Pinkepinke gewonnen hatte, teilte er großmütig die Scheine wieder aus, und das Karussell drehte sich weiter. «Zwei Buben, drei Könige! Volles Haus!» Was draußen vorging, Kriegslage und Heimat, dafür interessierte sich niemand. Es hatte den Anschein, daß die Männer froh waren, von allen Nachrichten abgeschnitten zu sein.
    Gerber humpelte an seinem Stock weiter. In dem großen Camp mußten doch ein paar vernünftige Menschen aufzutreiben sein, die ihren Kopf zum Denken benutzten. Erst nach langem Suchen fand er ein Zeit, in das zu kriechen es sich lohnte.
    Vier grauhaarige Landser saßen zusammen. Sie sprachen über Gewerkschaften. Gerber schnappte Begriffe auf, die ihm völlig neu waren: Lohnkampf, Akkordsystem, Streik, Jugendarbeit, soziale Fürsorge, Auseinandersetzung mit Unternehmern, Polizei und Staatsorganen.
    Gerber kannte nur die «Deutsche Arbeitsfront». Jeder Beschäftigte - ganz gleich, ob Arbeiter, Angestellter oder Beamter - war automatisch Mitglied. Der Monatsbeitrag wurde gleich vom Gehalt abgezogen. Von Lohnkämpfen und Streiks war nie die Rede. Er erinnerte sich, wie ein Klassenkamerad, dessen Vater eine Tuchfabrik besaß, einmal sagte: «Die Arbeitsfront hat uns wieder zu Herren im eigenen Hause gemacht.» Der Alte war dafür bekannt, daß er die niedrigsten Löhne in der ganzen Stadt zahlte.
    Auf der Schule hatte man ihnen eingetrichtert, daß die Gewerkschaftsführer durchweg arbeitsscheue, korrupte Leute gewesen wären, die den Arbeitern mit falschen Versprechungen das Geld aus der Tasche lockten. 1933 sollten sie entweder ins Ausland getürmt sein, natürlich unter Mitnahme der Gewerkschaftskasse, oder man hatte sie eingesperrt, was Gerbers Lehrer auch ganz richtig fanden.
    Bedauerlicherweise hatten sie mit Dr. Vetter niemals über Gewerkschaften gesprochen. Jetzt

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