Irrfahrt
Versorgung, Bürokratismus in der Verwaltung. Als Ergänzung dienten bissige Karikaturen. Nicht allein Hitler und die Nazibonzen wurden lächerlich gemacht. Auch Churchill und Attlee, Molotow und Stalin, Eisenhower und Montgomery gerieten ins Kreuzfeuer der Zeichenstifte. Niemand war vor den Cartoonists sicher - mit Ausnahme der königlichen Familie.
Stockend fraß Gerber sich durch die Berichte über die Ostfront. Der gesamte Mittelabschnitt war zusammengebrochen. Sowjetische Truppen hatten Belorußland, weite Teile Ostpolens und Galiziens erobert. In der Südflanke der deutschen Front klaffte plötzlich ein riesiges Loch: Rumänien war abgefallen, hatte Deutschland den Krieg erklärt. Bild und Lebenslauf des gestürzten Staatschefs Antonescu wurden von allen britischen Zeitungen veröffentlicht. Auf dem Balkan ging es drüber und drunter. In Bulgarien, das die sowjetischen Panzerspitzen erreicht hatten, tobte ein Volksaufstand. Griechenland und Kreta mußten geräumt werden. Britische Flieger und griechische Partisanen sorgten dafür, daß auch dieser Rückzug verlustreich verlief. Kommentatoren erörterten, welche Auswirkungen die Räumung des Balkans auf Deutschlands Kriegspotential haben würde. Ölquellen und Erzlager waren auf der Karte genau verzeichnet.
Auch in Polen, in der Hauptstadt Warschau, tobte ein Aufstand. Die Weichselbrücken waren zerstört, ganz Warschau stand in Flammen. Sieben Wochen dauerten schon die Kämpfe, und das brutale Vorgehen der Deutschen gegen die Bevölkerung rief in der britischen Presse helle Empörung hervor. Aus der politischen Lage wurde Gerber nicht klug. Es gab offenbar zwei polnische Regierungen: eine in London, die Churchill als die einzig rechtmäßige bezeichnete, und eine jüngst in Lublin gegründete, die wieder von Stalin anerkannt und unterstützt wurde. Churchill und Stalin bezichtigten sich gegenseitig der Schuld an der Katastrophe in Warschau.
Wenn zwei sich streiten, freut sich der dritte, dachte Gerber. Weder für die Briten noch für die Sowjets hegte er irgendwelche Sympathien. Aber über den Sieg der Deutschen konnte er sich erst recht nicht freuen. Grauenvolle Bilder sprangen ihn an: Fotos von Leichenbergen, nackte und ausgemergelte Körper, wie Holzstapel aufgeschichtet. Vernichtungslager Maidanek, von den Russen in der Nähe Lublins entdeckt. Unzählige Menschen aus vielen Ländern Europas, sogar Frauen und Kinder, sollte die SS dort ermordet haben. Erschlagen, erschossen, vergast ...
Gerber wehrte sich mit aller Kraft, das Entsetzliche zu glauben. Nein, das ist unmöglich, so etwas können wir nicht getan haben! Alles Fälschung, infame Lüge! Doch die Bilder des Schreckens ließen Ihn nicht los. Sie verfolgten ihn bis in seine Träume.
Lange Zeit war er nicht fähig, eine Zeitung aufzuschlagen. Widerstreitende Empfindungen und Gedanken quälten ihn. Als Gefangener sehnte er das Ende des Krieges herbei, andererseits fürchtete er sich davor. Gegen Deutschland brandete eine riesige Woge von Haß und Verachtung.
Der Oktober brachte noch sonnige, warme Tage, die Großbritannien dem Einfluß des Golfstroms zu verdanken hatte. Sister Murphy scheuchte aus eigener Machtvollkommenheit ihre Schäflein in den kleinen Garten neben der Station. Vier Posten mit schußbereitem Gewehr mußten Wache halten.
Gerber wurde kurzerhand in einen Rollstuhl gesetzt und bis zu einer Bank gefahren. Neben ihn kam der Luftwaffenmajor Kämpfe zu sitzen, der in einem anderen Krankensaal untergebracht war. Es gab ein Wiedersehen mit gedämpftem Trommelschlag. Kämpfe war niedergedrückt, er sprach nur wenig. «Mein Arm wird steif bleiben», klagte er, «ich kann nie wieder fliegen ... »
Gerber blickte in das buntgefärbte Laub der Bäume, Er dachte an Schulausflüge in die heimatlichen Wälder, an seine Eltern. Wie mochte es ihnen gehen? Das Briefverbot traf alle Gefangenen hart.
Allmählich heilte Gerbers Bein. Dr. Turgel erlaubte eine halbe Stunde Rollstuhl täglich, außerdem fünf Minuten Gehübungen an Krücken, immerhin ein Fortschritt nach wochenlanger strenger Bettruhe. Gern hätte er sich mit dem Arzt ein bißchen unterhalten, aber Dr. Turgel war immer in Eile.
Das Lazarett hatte zur Entlastung der britischen Ärzte einen kriegsgefangenen Arzt für die Abteilung der Kriegsgefangenen angefordert. Obwohl in den Lagern genügend Bewerber herumsaßen, tat sich nichts. Erst zu Beginn des Winters traf der sehnlichst erwartete Kandidat ein. Zur großen Überraschung
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