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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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der Patienten und zum nicht geringen Entsetzen der britischen Lazarettleitung war er Angehöriger der SS. Dr. Peter legte Wert darauf, als «Obersturmführer» und nicht etwa als «Herr Oberarzt» angeredet zu werden. Am Ärmel seines Waffenrocks trug er die Divisionsbezeichnung «Frundsberg», ein Name, der zu dem Landsknechtshaufen paßte, den man in ganz Europa zusammengetrommelt hatte.
    Dr. Peter war Nationalsozialist. In allen Fragen der braunen Ideologie erwies er sich als hervorragender Kenner. Hitlers «Mein Kampf» hatte er vierzehnmal gelesen. Als Arzt jedoch war er untermittelmäßig. Nachdem er sein Examen gebaut hatte, kaufte ihm sein Vater eine Praxis in einer Kleinstadt, wo es wenig Konkurrenten gab. Im Kriege lernte er Arme und Beine absäbeln und glaubte daher berechtigt zu sein, sich als Chirurg zu betrachten.
    Die erste Aufgabe des neuen Chirurgen im Emergency Hospital war eine Blinddarmoperation. Für diese Routinearbeit brauchte Dr. Peter eine volle Stunde. Der Chefarzt Mr. Pitton hätte das in fünfzehn Minuten bewältigt. Ärzte, Schwestern und Pfleger waren empört, daß man ihnen eine solche Niete geschickt hatte. Der Junge aus Neuss prägte mit der typischen Schlagfertigkeit des Rheinländers die Formulierung: «Wir sind halt in einer Irrenanstalt!»
    In wenigen Tagen hatte Dr. Peter die Gesinnungsfreunde um sich geschart. Stundenlang stritt er mit ihnen über bestimmte Stellen in den Werken führender Partei-Ideologen. Natürlich behielt er dabei immer das letzte Wort.
    Das Beispiel machte Schule. Um dem eintönigen Tagesablauf und der Langeweile zu entgehen, fanden sich auch andere Lazarettinsassen zu Diskussionsgruppen zusammen. Ältere Offiziere sahen es als ihre Pflicht an, das militärische Denken der jungen Kameraden auch in der Gefangenschaf t wach zu halten und weiterzuentwickeln. Schließlich sollten sie dereinst in führende Stellen hineinwachsen. Wann und wie, das wußten die Herren selber nicht.
    Die Männer von der Luftwaffe versammelten sich um Major Kämpfe, der wieder seelischen Auftrieb erhielt. Endlos kauten sie Flugzeugtypen und Bewaffnung durch, schwatzten über Schiebungen mit Benzin und andere dunkle Vorkommnisse. Wer nicht vom Bau war, verstand kaum ein Wort.
    Dr. Peter leitete außerdem die Fachgruppe, die sich mit Problemen der Panzertruppe beschäftigte. Lang und breit wurden die Unterschiede zwischen einer SS-Panzerdivision und einer solchen des Heeres erörtert und in graphischen Darstellungen unter Verwendung merkwürdiger taktischer Zeichen festgehalten. Allerdings hatte Dr. Peter große Mühe, seine Autorität an der Spitze der Panzerexperten zu halten. Unter den Patienten befand sich ein Oberstleutnant im Generalstab. Mit seinen himbeerroten Streifen an der Reithose, dazu Filzpantoffeln und Pyjamajacke, erregte er die Verwunderung aller Engländer. «Another mental case», sagte die Stationsschwester - auch so ein Fall für die Irrenanstalt.
    Der Oberstleutnant machte die theoretische Schulung des Nachwuchses zu seinem Hauptanliegen. Bei seiner Fachkenntnis fiel es ihm nicht schwer, den SS-Offizier auszustechen. Dr. Peter übte grausame Rache, wenn er die Wunde des Oberstleutnants behandelte. Ein besonders schmerzhafter Eingrif f ergab sich ausgerechnet am Schlieffen-Tag, dem höchsten Feiertag für jeden Generalstäbler.
    Gerbers Gruppe war die kleinste. Er fühlte sich an seine Schulzeit erinnert, als sich der Flottenverein gegen eine Übermacht behaupten mußte.
     
    Der SS-Offizier und der jüdische Emigrant waren sich spinnefeind, was niemand verwunderte. Nicht nur politische, auch fachliche Meinungsverschiedenheiten dienten als Zündstoff. Of t kam es in Gegenwart der Patienten zu heftigen Wortgefechten. Dr. Peter sagte einmal mitten in der Debatte: «Wenn es nach mir ginge, wären Sie ins KZ gekommen.» Dr. Turgel entgegnete eisig: «Es geht aber nicht mehr nach Ihnen, Herr Peter, jetzt nicht und in Zukunf t erst recht nicht!»
    Unter der britischen Ärzteschaf f galt eine strenge Hierarchie. Das höchste Ansehen genossen die Chirurgen. Aus Gründen, die im achtzehnten Jahrhundert wurzelten, waren sie stets mit «Mister» anzureden, nicht etwa mit «Doktor». Hinter den Chirurgen kamen alle Fachärzte, die mehr oder weniger of t ein Skalpell in die Hand nehmen mußten. Mit Abstand folgten dann die Vertreter der übrigen klinischen Fächer und schließlich alle practitioners. Radiologen und Pharmakologen standen auf der untersten Sprosse.
    Der

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