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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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seine Äußerung an den SS-Arzt weiter. Solche Leute duldete Dr. Peter nicht in seiner Umgebung. Natürlich konnte er in der Beschwerde an Colonel Blimp nicht den wahren Grund für die Entlassung anführen, und so wurde dem ahnungslosen Sanitäter ein Delikt vorgeworfen, das in Deutschland wie in Großbritannien unter Männern strafbar war. Der Colonel nahm die Beschuldigung ohne Nachprüfung zur Kenntnis und schickte den angeblich nicht ganz normalen Obergefreiten sofort ins Lager.
    Die «Eisernen» merkten am Verhalten der Männer, daß ihnen das Hef t aus der Hand glitt. Eine Androhung, alle «Gesinnungslumpen» zu notieren und später zu melden, wirkte schon nicht mehr. In unbestimmter Form war deshalb von scharfer «Vergeltung» die Rede. Die Mehrzahl der Gefangenen verschanzte sich hinter einer Mauer von Schweigen. Nur im kleinen Kreise sagten sie ihre Meinung. Der Junge aus Neuss blieb seiner Überzeugung treu; er sprach aus, was er dachte. Gerber warnte ihn: «Sieh dich vor, dieser Oberstleutnant und der schwarze Peter sind zu allem fähig!» Der Junge lachte sorglos: «Mich hätten viele Kugeln treffen können in diesem Scheißkrieg!»
    Das Unheil nahm seinen Lauf. Dr. Peter und seine Anhänger provozierten geradezu Debatten, um den Jungen immer mehr herauszulocken. Gerber hörte nur Bruchstücke, weil das Bett des Rheinländers am entgegengesetzten Ende des Schlafsaals stand. Aber die Unterhaltung wurde mitunter ziemlich laut. «Ich scheiße auf euren Führer!» rief der Junge wütend. «Die halbe Welt sollte er erobern für Krupp und Konsorten, und wir einfachen Leute mußten die Knochen hinhalten. Meine Eltern sind ausgebombt, zwei Brüder gefallen. Deutschland liegt in Trümmern. Und das alles verdanken wir unserem Führer, haha!»
    Gerber erschrak. Derartige Worte bedeuteten für die «Eisernen» eine tödliche Kränkung, die sie nicht ungestraf t hinnehmen würden. Auch andere Patienten befürchteten das.
    Im Lazarett gab es keine Zählappelle. Der Sergeant zählte seine Schäflein, wenn sie im Bett lagen und schliefen. Nachts brannte im Krankensaal eine Notbeleuchtung, und so konnte er beim Rundgang zwischen den Bettreihen die einzelnen gerade noch erkennen.
    Gerber schlief bereits fest, als das Licht plötzlich voll angedreht wurde. Mehrere Posten mit schußbereiten Waffen zogen auf. Schwestern und britische Sanitäter liefen aufgeregt hin und her. Großalarm! Beim Zählen hatte ein Mann gefehlt. Vielleicht war jemand abgerückt. Im Lazarett war das eher möglich als in den mit Stacheldraht verbarrikadierten Lagern.
    Der Junge aus Neuss lag nicht in seinem Bett. Nach langem Suchen fand man ihn in einer mit alten Matratzen und Gerümpel vollgestopften Bodenkammer. Der Junge war tot, mit einer Schlinge erwürgt.
    Alle erwarteten nun eine umfangreiche Untersuchung. Schließlich war Scotland Yard für seine Findigkeit weltberühmt. Da der Kreis der Verdächtigen nicht groß war, mußte es doch ein Kinderspiel sein, den oder die Täter in Kürze zu ermitteln und abzuurteilen. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Als militärische Einrichtung gehörte das Lazarett nicht in den Zuständigkeitsbereich von Scotland Yard oder anderer ziviler Dienststellen. Was die MiIitärbehörde an Untersuchungen und Verhören anstellte, war oberflächlich und führte zu keinem Ergebnis. Im Krankensaal kursierte das Wort «Feme». Die «Eisernen» hatten es in Umlauf gesetzt. «Hier gibt es niemand, der für Ordnung sorgt, also tun wir das selbst!» erklärte der Oberstleutnant zynisch.
    Gerber machte sich bittere Vorwürfe, daß er den Jungen nicht eindringlicher gewarnt hatte. Irgendwie fühlte er sich an seinem Tod mitschuldig, auch wenn er sich hundertmal sagte, daß er ein solches Verbrechen nicht für möglich gehalten hätte. Eine unbändige Wut auf die «Eisernen» stieg in ihm hoch. Blitzartig zerriß der Schleier vor seinen Augen: Das ist ihr System! Erwürgen, erschießen, vergasen ... Jeden ausschalten, der gegen sie ist, der ihnen die Wahrheit ins Gesicht schleudert. Angst und Schrecken verbreiten, auch noch hier in der Kriegsgefangenschaft.
    Schon fünf Tage waren vergangen, ohne daß der Täter gefaßt oder ein einziges Wort von der Ermordung nach außen gedrungen war. Im Bett des Jungen aus Neuss lag ein anderer Patient, und der Obersturmführer stelzte im weißen Kittel durch den Krankensaal, als sei überhaupt nichts geschehen.
    Gerber konnte sich nicht länger beherrschen. Er äußerte Jordy gegenüber

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