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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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haben von den riesigen Vernichtungslagern in Polen und der Ukraine, von dem Mord an sowjetischen Kriegsgefangenen, den Todesmärschen ausgemergelter KZ-Häftlinge ...
    Es stimmte also, was die englische Presse vor einem Jahr über Maidanek geschrieben hatte. Und das war nur ein einziges Todeslager! «Eine Schande für Deutschland», sagte Rolf Ulbert erschüttert zu Gerber.
    Überlebende eines Lagers sagten aus, welche sadistischen Experimente an den Häftlingen durchgeführt wurden: Unterkühlungsversuche, Verseuchung mit Bakterien. In dem Bericht, der am Schwarzen Brett hing, war auch von einem Pathologen Dr. Schallock die Rede. Er stand auf der Fahndungsliste der Siegermächte. Sein gegenwärtiger Aufenthalt sei unbekannt, hieß es.
    Gerber stutzte. Schallock? So heißt doch unser Lagerhygieniker! Der gleiche seltene Name, der gleiche Beruf. Gerber nahm einen Rotstift und unterstrich die Worte «Dr. Schallock». Niemand konnte den dicken Strich übersehen.
    Der Bericht hing noch drei Tage aus, aber nichts geschah. Gerber verstand das nicht. Die britischen Dienststellen hätten doch nur in ihrer sorgfältig geführten Kartei zu suchen brauchen!
     
    Langsam, sehr langsam kam der Postverkehr in Gang. So mancher Gefangene hatte tagelang überlegt, welche Anschrift er angeben sollte. Seine Familie war geflüchtet, ausgebombt oder nach den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens umgesiedelt. Als letzte Möglichkeit blieb der zentrale Suchdienst des Roten Kreuzes.
    Endlich trafen die ersten Antworten aus der Heimat ein. Mit Bangen und Herzklopfen wurden sie entgegengenommen. Oft enthielten sie schlechte Nachrichten: Väter und Brüder waren in den letzten Kriegsmonaten gefallen. Angehörige im Bombenhagel umgekommen, Kinder auf der Flucht erfroren, Ehen zerbrochen. Viele Menschen hausten in Notunterkünften, hatten keine Arbeit, hungerten. Seuchen grassierten in den Städten. In Deutschland herrschte ein Chaos, von dem sich die Gefangenen nur schwer eine Vorstellung machen konnten. Selbst die englischen Zeitungen mit ihrer präzisen Berichterstattung vermochten es nicht, ein vollständiges Bild vom «darkest Germany» zu zeichnen.
    Und dennoch ging das Leben weiter.
    Das Lager hatte die Musikinstrumente einer aufgelösten britischen Einheit geerbt. Anschlag am Schwarzen Brett: Wer spielt ein Instrument? Schnell fanden sich kundige Männer. Sie gründeten ein Lagerorchester mit «großer Besetzung». Da ihnen nur die Noten britischer Militärmärsche zur Verfügung standen, mußten sie bekannte deutsche Schlager aus dem Kopf spielen, in eigenem Arrangement. Das klang mitunter etwas merkwürdig.
    Wesentlich besser schnitten die «Dixieland All Stars» ab, eine acht Mann starke Gruppe, die sich dem klassischen Jazz verschrieb. Noten waren hierzu nicht erforderlich, die Männer spielten nach Gehör. Improvisation und Intuition waren alles.
    Verwundert lauschte Gerhard dem ersten Jazzkonzert, als «jam session» angekündigt. Er hörte Klänge, die im Nazireich als «dekadente Negermusik» verboten waren. Eine ganz neuartige Form der Musik bot sich ihm dar: fröhlich und beschwingt, rhythmisch, melodisch, mit viel Talent vorgetragen, voller instrumentaler Einfälle und musikalischer Ideen. Schon die Namen der einzelnen Stücke waren ein Genuß: Harlem Nocturno, Doppingstreet Blues, Muscrat Ramble. Später konnte die Gruppe noch einen Sänger gewinnen, einen «vocaIist». Mit seinem eigentümlich kehligen Gesang erinnerte er an den berühmten Louis Armstrong, den die älteren Männer noch aus den zwanziger Jahren kannten.
     
    Weihnachten rückte heran, Friedensweihnacht 1945. Bei den kärglichen Rationen und der geringen Kohlenzuteilung war die Stimmung im Lager sehr gedrückt. Drei Tage vor dem Fest durften ausgewählte Männer vom nahen Wald Mistelzweige und Fichtenreiser holen. Geschickte Hände zerschnitten dünnes Konservenblech in schmale Streifen und fabrizierten daraus eine Art Lametta. Auch glitzernde Sterne, Engel, Schneeflocken und anderer Zierat wurden kunstvoll angefertigt.
    Heiligabend. Das Lagerorchester hatte Weihnachtslieder eingeübt. Eine rechte Feststimmung wollte in dem ungeheizten Speisesaal nicht aufkommen. Frierend gingen die Männer zurück auf ihre Baracken.
    Das Rote Kreuz verteilte aus beschlagnahmten Wehrmachtbeständen kleine Liebesgaben an die Gefangenen. Jeder erhielt eine Tüte Bonbons, drei Kekse und eine Konservendose. Da die Büchsen unterschiedlich gefüllt waren, kamen sie zur Verlosung.

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