Irrfahrt
Freiburg abgeworfen hatten. Die Hitlerregierung benutzte dies als Vorwand, um kurz danach «Vergeltungsangriffe» auf Rotterdam, Coventry, Birmingham, Liverpool und andere westeuropäische Städte durchzuführen.
«Infame Lüge!» riefen die Unbelehrbaren. «Weil wir den Krieg verloren haben, schiebt man uns alles in die Schuhe ... »
Täglich drängten sich die Gefangenen in Scharen vor dem Schwarzen Brett. Rudolf Heß in Nürnberg, das war eine Sensation. Heß war Hitlers Stellvertreter in der Partei gewesen. Plötzlich, im Frühjahr 1941, verschwand er aus der Öffentlichkeit. Es hieß, daß er im Zustand geistiger Umnachtung nach Schottland geflogen sei. Der Flug stimmte, nicht aber die geistige Umnachtung. Hitler wollte sich vor dem Überfall auf die Sowjetunion den Rücken frei halten und beauftragte Heß, mit der britischen Regierung über einen Sonderfrieden zu verhandeln. Aber darauf ließen sich die Briten nicht ein. Heß wurde bis Kriegsende interniert. Dieser Umstand rettete ihn später vor dem Galgen, obwohl sein Sündenregister ziemlich lang war.
Mit Spannung wurde die Vernehmung des Generalfeldmarschalls Keitel erwartet. Die vernichtende Abrechnung mit dem Parteibonzen Göring, seiner Luftwaffe und seiner Wirtschaft hatten manche Soldaten mit einer gewissen Schadenfreude hingenommen. Aber nun war die Führung des Heeres angeklagt. Wilhelm Keitel, Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, entstammte dem Generalstab. In Berlin-Karlshorst hatte er die Kapitulationsurkunde unterzeichnet, ohne dabei den Handschuh auszuziehen. Auch in Nürnberg auf der Anklagebank wirkte er steif, in seiner schmucklosen
Litewka jeder Zoll ein Offizier. Daher mußte Keitel, soviel stand für die Unbelehrbaren fest, schlackenrein aus dem Prozeß hervorgehen.
Nicht so überzeugt waren jene Männer im Lager, die jahrelang an der Ostfront gestanden hatten. Sie wußten, was der «Kommissarbefehl» bedeutete, sie kannten den «Nacht- und -Nebel -Befehl», zur Hinrichtung verdächtiger Zivilisten und andere Weisungen des OKW. die jetzt vor der Weltöffentlichkeit erörtert wurden.
Partisanenbekämpfung. Mit unvorstellbarer Grausamkeit machten Einheiten des Heeres ganze Dörfer dem Erdboden gleich, metzelten die Einwohner nieder. Und was behaupteten Keitel und Jodl vor dem Gerichtshof? Greueltaten habe nur die SS begangen, die Wehrmacht sei im Geiste der stolzen Traditionen preußischen Soldatentums erzogen!
Massenvernichtung sowjetischer Kriegsgefangener, GeiseIerschießungen in den okkupierten Ländern, Ermordung britischer und amerikanischer Fliegeroffiziere im KZ Mauthausen.
Keitel wand sich, erwiderte lahm, daß er «in manchen Fällen» selbst nicht völlig an die Rechtmäßigkeit der ergangenen Befehle geglaubt habe. Wer aber setzte die Befehle durch? «Ich habe geirrt», sagte Keitel kleinlaut, «ich habe nicht verhindert, was hätte verhindert werden sollen ... ».
Diese «Einsicht» kam nun zu spät. Alles hatte Lakeitel geduldet, ein gefügiges Werkzeug Hitlers und der Monopole. Bedingungslos erfüllte er die Aufgaben, die ihm bei der Vorbereitung und Durchführung des Aggressionskrieges übertragen wurden. Niemals widersetzte er sich einem verbrecherischen Führerbefehl, obwohl er seinem obersten Kriegsherrn näherstand als irgendein anderer Offizier des Generalstabs.
Der Nimbus von KeiteI, den viele Gefangene für unantastbar gehalten hatten, brach in Nürnberg schmählich zusammen.
Zusammengebrochen war auch die hartnäckig verfolgte Linie des Verteidigers Dr. Laternser, Militärs seien keine Politiker. In mehreren Fällen wurde nachgewiesen, daß Keitel und Jodl als Assistenten des Außenministers Ribbentrop fungiert hatten.
Völkermord. Das volle Gewicht der Anklage fiel auf den Österreicher Ernst Kaltenbrunner, einen der höchsten SS- und Polizeigewaltigen des Nazistaates. Der Mann mit den groben Gesichtszügen, der kaltblütig die Ermordung unzähliger Menschen befohlen hatte, war von der Angst geschüttelt. Er log, stritt ab. Von Fall zu Fall mußte er überführt werden: durch Aussagen von KZ-Kommandanten, durch eigene Aufzeichnungen, durch Filmaufnahmen aus den Archiven der SS.
Grauenhafte Bilder erstanden vor dem Gerichtshof. Sogar Göring bedeckte seine Augen; Keitel und Rosenberg, zwischen denen Kaltenbrunner seinen Platz hatte, rückten mit gespieltem Entsetzen von dem Schwerbelasteten ab. «Und davon haben Sie nichts gewußt?» fragte der Richter. O nein, sie alle wollten nichts gewußt
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