Irrfahrt
das Fernweh der Männer und buchtete sie sechs Wochen ein. Da das Arrestlokal für einen derartigen Neuzugang nicht ausreichte mußten sie in alten, zerrissenen Zelten kampieren. Die Arrestanten wurden kahlgeschoren und zu den niedrigsten Arbeiten herangezogen. Ihrem Freiheitsdrang tat das keinen Abbruch. Wenngleich die Chancen, von der Insel fortzukommen, äußerst gering waren, gab es in der Folgezeit immer wieder Fluchtversuche. In dieser Hinsicht unterschied sich Wales nicht von allen Gefangenenlagern der Welt.
20. Kapitel
Prozesse
Nach monatelangen Vorbereitungen begann am 20. November der Strafprozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg. Daß man diese Stadt auswählte, war bestimmt kein Zufall. In Nürnberg hatten die Nationalsozialisten ihre prunkvollen Parteitage abgehalten und die Ausnahmegesetze gegen die jüdische Bevölkerung erlassen.
Unter den Gefangenen gab es nicht wenige, die aus der Vorbereitungsdauer den Schluß zogen, der Prozeß würde überhaupt nicht stattfinden. «Das wagen sie nich!», hatten sie noch vor ein paar Tagen gesagt. Nun hingen die ersten Presse berichte am Schwarzen Brett, sogar in deutscher Übersetzung, bildhaft gemacht durch Fotos von der Anklagebank.
Da saßen sie also: Göring, Heß, Ribbentrop, Rosenberg, Frank, Frick, Streicher, Sauekel, Speer, Schirach, Generalfeldmarschall Keitel und Generaloberst Jodl, von der Marine Raeder und Dönitz. Insgesamt einundzwanzig. Robert Ley, ehemals Reichsleiter der «Deutschen Arbeitsfront», war nicht darunter. Er hatte sich in seiner Gefängniszelle erhängt.
Wer da glaubte, der Prozeß würde in kurzen Verhandlungen abgewickelt, befand sich in einem schwerwiegenden Irrtum. Der Internationale Militärgerichtshof arbeitete gründlich, nach einem Statut. Zahllose Dokumente, Zeugenaussagen, Beweisstücke wurden beigebracht, um die faschistischen Politiker und Militärs zu überführen. Hauptanklagepunkte waren: Verschwörung gegen den Frieden, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Als erster kam Göring an die Reihe. Seine Vernehmung dauerte zehn Tage. Offenbar begriff er seine Lage nicht. Er gab sich martialisch, hielt Propagandareden, versuchte den Spieß umzudrehen. Der amerikanische Anklagevertreter Jackson nahm ihn ins Kreuzverhör. Jackson konnte sich oft nicht beherrschen, aber dadurch lockte er Göring heraus.
Ungeschminkt enthüllte sich vor dem Gerichtshof das Bild des Reichsmarschalls: ein Mann von skrupelloser Gesinnung, ruhm- und gewinnsüchtig. Mit der Beute seiner privaten Raubzüge war er sogar noch unzufrieden. «HitIer hat mir immer die besten Stücke weggeschnappt, ich mußte mich mit Zweitrangigem begnügen», erklärte er zu seiner Entschuldigung, als ihm Bereicherung an den in Europa gestohlenen Kunstschätzen vorgeworfen wurde.
Bereits 1936 hatte die Luftwaffe begonnen, Spionageflüge über den Nachbarländern auszuführen. Langstreckenflugzeuge photographierten in großer Höhe strategisch wichtige Objekte: Fabriken und Ölraffinerien, Bahnhöfe und Häfen, Kasernen und Festungen. So entstand, unter Verletzung der Lufthoheit, eine lückenlose Kartei der Bombenziele für den geplanten Angriffskrieg.
Die Last des Beweismaterials war erdrückend: Verantwortlich für die Vorbereitung der Aggression, für die brutalen Luftangriffe auf friedliche Dörfer und Städte überfallener Länder, für den Massenmord an europäischen Juden, für die Ausplünderung der UdSSR.
Die Entlarvung von Göring öffnete vielen Gefangenen die Augen. Sie empfanden Scham, wenn sie daran dachten, daß sie dem «dicken Hermann» zugejubelt und sich harmlose Witze über ihn erzählt hatten. Stramme Angehörige der Luftwaffe jedoch empfanden anders. Göring war der zweite Mann im Staate gewesen, der Kronprinz Hitlers. Daher sei es nicht verwunderlich, daß sich die Anklage nach dem Tod von Hitler, Goebbels und Himmler auf den «armen» Reichsmarschall konzentriere. Jeden Ausfall des Verteidigers begrüßten die Flieger lauthals. Als immer neues Beweismaterial vorgelegt wurde und die Verteidigung endgültig zusammenbrach, schoben sie alle Schuld auf die Anklage.
Ein Ereignis erregte die Gemüter besonders. Auch Gerber konnte sich noch an die Meldung erinnern: «Heimtückischer Uberfall britischer Luftpiraten auf Freiburg». Das war im Jahre 1940 gewesen. Jetzt wurde offenbar, daß nicht britische, sondern deutsche Verbände unter dem Kommando des späteren Luftwaffengenerals Kammhuber ihre Bomben über
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