Irrfahrt
«Thunfisch ist gesund», stand auf Gerbers Festgeschenk. Andere zogen Eisbein in Aspik, Ölsardinen oder Leberwurst, manche nur eine winzige Büchse
Tomatenpüree oder Sellerie in Scheiben. Rolf Ulbert hatte Pech: in seiner Dose waren Rote Bete. Einträchtig teilten die bei den Freunde ihre Beute.
Zum Ausgleich waren in Rolfs Tüte Sahnebonbons mit Schokoladenfüllung. Gerhard hingegen hatte miese Hustenbonbons erwischt, eingewickelt in Papier mit dem Aufdruck: «Erst siegen - dann reisen». Dieser Slogan war durch die Ereignisse längst überholt. An «siegen» dachte keiner mehr, an «reisen» schon eher. Doch die Heimkehr lag noch in weiter Ferne.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag fand Gerhard auf seinem Platz einen Brief. Vaters Handschrift, klar und fest die Buchstaben. Welch ein Glück, die Eltern waren gesund, hatten das Kriegsende heil überstanden. Ihre größte Sorge war das Schicksal des einzigen Sohnes, von dem außer der Suchmeldung bisher kein Lebenszeichen eingetroffen war. Und auf der Meldung stand bei «verwundet» ein dickes Kreuz.
Die Zimmergenossen drückten Gerber stumm die Hand. So gute Nachrichten aus der Heimat waren selten.
Erst später, als die Aufregung in ihm abklang, las er den Brief genauer. Bei der ersten Durchsicht hatte er den Inhalt nicht voll in sich aufgenommen. Zunächst war nur das wichtig, was die eigene Familie betraf. Aber auf dem engbeschriebenen Briefbogen stand noch vielerlei:
Klassenkameraden waren zurückgekehrt, teils verwundet. Einige drückten wieder die Schulbank. Jede Art von «Reifevermerk» oder «Notabitur» galt nicht mehr. Die sowjetische Besatzungsmacht war unerbittlich: Wer studieren wollte, mußte ein vollwertiges Reifezeugnis vorweisen. Aus diesem Grunde lag auch das Durchschnittsalter der Abiturklassen bei zweiundzwanzig Jahren.
Studienrat Gerber unterrichtete weiterhin an seiner Schule. Kohlen gab es nicht, auch keine Lehrmittel. Alle «braunen» Bücher waren durch einen Befehl der Militäradministration verboten. Neue Schulbücher befanden sich in Vorbereitung.
Direktor Gall hatte es versäumt, sich die bewußte Kugel in den arischen Schädel zu schießen. Er saß jetzt in einem Internierungslager bei Dresden. Dr. Hollmann leistete ihm dort Gesellschaft, zusammen mit höheren SA-Führern, Kreisleitern und Ortsbauernführern. lhre Frauen mußten grobe Arbeit verrichten, manche zum erstenmal in ihrem Leben.
Dr. Vetter hatte das Amt des Kreisschulrates übernommen. Tag und Nacht arbeitete er, um das Bildungswesen der Stadt wiederaufzubauen. Die Kommandantura half ihm dabei; der zuständige Oberleutnant war vor dem Kriege selbst Lehrer gewesen, irgendwo im Donbass.
Dr. Vetter! Ja, der hat es verdient. Es gibt doch eine Gerechtigkeit, dachte Gerhard froh. Sein Gefangenendasein war nun etwas leichter zu ertragen. Er konnte in die Zukunft blicken, Pläne schmieden...
Im Nürnberger Prozeß waren einige Wochen mit der Vernehmung von Zivilisten vergangen. Sie fanden im Lager nur wenig Beachtung; die Berichte am Schwarzen Brett wurden kaum zur Kenntnis genommen. Erst als die Großadmiräle Raeder und Dönitz an die Reihe kamen, flammte das Interesse wieder auf.
Als Raeder im Jahre 1928 die Leitung der Reichsmarine übernahm, steckte der Neuaufbau der Flotte noch in den Anfängen. Nach dem ersten Weltkrieg hatten die Vertragstexte für alle Schiffsklassen eine Höchsttonnage festgelegt. Um diesen Beschränkungen zu entgehen, operierte die Reichsmarine und später auch die Kriegsmarine einfach mit falschen Zahlen. Viele Neubauten waren um zehn bis zwanzig
Prozent, in manchen Schiffsklassen sogar um dreißig Prozent größer als zulässig. Raeder hatte diesen Betrug nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich angeordnet.
Und was erklärte er vor dem Gerichtshof? Das alles geschah «aus Versehen», ohne die Absicht, eine Angriffshandlung vorzubereiten, nur zur Verteidigung.
Als Antwort legte der britische Generalstaatsanwalt eine Denkschrift Raeders aus dem Jahre 1938 vor. Sie war im Geheimarchiv der Seekriegsleitung erbeutet worden. Ihre Terminologie entsprach den Formulierungen, die Dr. Goebbels bevorzugte: «... WeltmachtsteIlung ... genügender Kolonialbesitz ... gesicherte Seeverbindungen ... nur gegen englische und französische Interessen erfüllbar ... Notwendigkeit entsprechender Kriegsvorbereitungen ... »
Eine Karte war beigefügt, wie Raeder sich Deutschlands künftiges Kolonialreich vorstellte: Die ehemaligen Besitzungen Ostafrika,
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