Irrfahrt
verlauten.
Einmal enthielten diese Blätter eine Sensation, jedenfalls für Gerber. Ein Prozeß in Hamburg wurde beschrieben. Der Hauptbelastungszeuge, ein gewisser Joachim Hansen, war im August 1944 bei der Kriegsmarine in Frankreich desertiert, hatte sich auf die Seite der Resistance geschlagen und bis
Mai 1945 an der Belagerung des Biskayahafens Lorient teilgenommen. Schließlich war er auf abenteuerliche Weise in seine Heimatstadt Hamburg zurückgekehrt.
Dieser junge Mann spielte nun im politischen Leben der Hansestadt eine wichtige Rolle. Er deckte Schiebungen der Stadtverwaltung auf, ein Senator mußte zurücktreten. Die Besatzungsmacht versuchte Hansen auszubooten. Als ehemaliger Angehöriger der Wehrmacht besaß er keine ordnungsgemäßen Entlassungspapiere, denn er hatte kein Gefangenenlager durchlaufen. Folglich, so behaupteten die Besatzer, stünde diesem Hansen auch nicht das Recht zu, sich in der Freien Hansestadt Hamburg frei zu bewegen. Sollte er doch zu den Franzosen gehen!
In Hamburg wurde ihm der Aufenthalt verweigert. Das fanden einige Zeitungen unnormal. Wieso kann sich ein Bürger der Stadt Hamburg nicht in Hamburg aufhalten, weshalb soll ein Mitkämpfer der Partisanenarmee erst ein Gefangenenlager durchlaufen?
Das Verfahren wurde niedergeschlagen, sehr zum Kummer einiger Stadtväter. Hansen erhielt umgehend die Aufenthaltsbewilligung, damit nicht etwa ein Abgeordneter der Kommunistischen Partei im Unterhaus unbequeme Fragen an den ehrenwerten Deutschlandminister seiner allergnädigsten Majestät stellen konnte.
Hansen war seiner Überzeugung treu geblieben. Er hatte gegen die Nazis gekämpft, und jetzt kämpfte er weiter. Wer ihn kannte, hatte das auch von ihm erwartet. Und Gerber kannte ihn.
Laut Weisung aus London sollte im Lager ein demokratisches Leben entwickelt werden. Schriftliche und mündliche Meinungsäußerungen waren erwünscht.
Der Start erwies sich als Fehlschlag. Kaum hatte die Lagerleitung das Schwarze Brett frei gegeben, war auch schon ein blauweiß umrahmter Aufruf angeheftet. Er begann mit «Landsleute!» und endete mit der anonymen Unterschrift «Ein bayrischer Kamerad».
Dem konfusen Inhalt nach war Hitler ein Saupreuße, der sich auf die ostelbischen Junker stützte. In Berlin war er an die Macht gekommen, und in Bayern hätte es niemals irgend welche Nazis gegeben. Folglich besaß Bayern das Recht und sogar die Pflicht, sich vom übrigen Deutschland loszusagen. Seine Staatsform wollte es frei bestimmen, und falls sich die lieben Bayern für die Monarchie und das angestammte Haus Wittelsbach entschieden, ginge das die Besatzungsmächte einen Schmarren an. Nachdem schon die Kriegsgefangenen aus Österreich in besonderen Lagern untergebracht wurden, könnten die ebenso unschuldigen Bayern dasselbe verlangen. Fürs erste genüge es, ihnen ein eigenes Compound zu geben. Um sich bis dahin leichter zu erkennen, sollten sich alle gebürtigen Bayern (denn Flüchtlinge und Zugereiste zählten nicht mit) einen blauweißen Streifen an den Ärmel nähen, dessen Form und Größe der Aufruf genau bezeichnete.
«Ach du heiliger Strohsack», sagte Gerber. Er fühlte sich an die unseligen Zeiten des Arbeitsdienstes erinnert und erzählte auf der Baracke, was er damals mit den Bayern erlebt hatte. Dröhnendes Gelächter. Die Geschichte von der Weißwurstschlacht ging wie ein Lauffeuer durch das ganze Lager.
Für viele war es eine Genugtuung, daß jener Aufruf der bayrischen Landsmannschaft nicht unwidersprochen blieb. Bald hing eine saftige Antwort neben dem Geschreibsel:
«Landsleute!
Wo befand sich die Hauptstadt der Bewegung? In Bayern!
Wo stand das Braune Haus? In Bayern!
Wo fanden die Reichsparteitage statt? In Bayern!
Wo residierte die Parteikanzlei der NSDAP? In Bayern!
Ein Kamerad aus Berlin.»
Den Lagerkommandanten ließen die separatistischen Bestrebungen der Bayern gleichgültig; ein eigenes Compound wurde ihnen nicht zugewiesen. Daraufhin wagte es niemand, sich den besagten Ärmelstreifen anzunähen.
Die Bemühungen um Demokratie gingen unterdessen weiter.
Schon vor Wochen hatte der Kommandant eine Anzahl vertrauenswürdiger Männer für einen Schulungslehrgang ausgewählt. Nun kamen sie zurück und sollten ihr neues Wissen unter den Kameraden verbreiten.
Die Prinzipien der Auslese waren schwer durchschaubar. Auf Menschen, die aus politischer oder religiöser Überzeugung gegen den Faschismus waren, legte man offensichtlich keinen Wert. Im Compound gab es
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