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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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Führung zu beweisen.
    Weitblickende Männer sahen voller Besorgnis, wie sich die Kluft zwischen West und Ost auftat. «Hoffentlich geht der Prozeß bald zu Ende, in einigen Monaten kann es zu spät sein», sagte Rolf Ulbert. «Die Koalition gegen die Nazis besteht offensichtlich nur noch im Nürnberger Gerichtssaal. Wie lange sie noch hält, das weiß niemand.»
    Andere Auswirkungen der Fulton-Rede waren erfreulicher. Die Gefangenen wurden nicht mehr so schlecht behandelt. Schikanen blieben aus, die Verpflegung besserte sich innerhalb weniger Tage. Wahrscheinlich sahen Briten an hoher Stelle in den deutschen Gefangenen schon ihre Verbündeten von morgen. Ohne mich, dachte Gerber.
     
    Im Lager gab es Veränderungen. Der neue Kommandant, ein Major, war begeisterter Sportanhänger. Demzufolge mußten seine Leute sich dem Sport widmen. Jedes Compound hatte eine Fußballmannschaft aufzustellen. Der Major stiftete sogar einen Pokal, und in mehreren Punktrunden sollten die Mannschaften um diese Trophäe spielen.
    Auch der Boxsport wurde propagiert. Lagerführer Müller mit seiner langjährigen Erfahrung leitete das Training. Irgendwo hatte man einen Boxring aufgetrieben. Damit die Sportler ihr Training durchhielten, bekamen sie doppelte Verpflegung. Mancher junge Mann ließ sich in die Boxriege einschreiben, um reichlicher essen zu können. Die Zusatzverpflegung wurde den anderen Gefangenen von den Rationen abgezogen. Dadurch hielt sich bei der Masse der Lagerinsassen die Begeisterung für den Sport in Grenzen.
    Der erste Boxabend wurde groß angekündigt. Der neue Kommandant erschien höchstpersönlich und saß mit seinem Stab in der ersten Reihe am Ring. Die Veranstaltung war hervorragend besucht. Endlich eine Abwechslung! Außerdem durften hier die Insassen verschiedener Compounds nebeneinander sitzen, woraus sich Möglichkeiten zu vielerlei Tauschgeschäften ergaben.
    Der pfiffige Seidel hatte natürlich die günstige Gelegenheit sofort erkannt. Wieselflink schlängelte er sich durch die Reihen. «Haste nischt zu verscherbeln?» fragte er Gerber. Der blickte verständnislos. Was sollte er schon zu verscherbeln haben? Mit dieser Armutserklärung war er für Seidel uninteressant.
    Trotz der Zusatzverpflegung war es nicht gelungen, zwei Boxer für die höchste Gewichtsklasse anzufüttern. Müller hielt eine bombastische Eröffnungsrede und versprach, für die nächste Veranstaltung zwei richtige Schwergewichtler in den Ring zu stellen - oder mindestens einen, den er dann zusammenschlagen konnte.
    Die Kämpfe wurden mit Handschuhen von sechs Unzen Gewicht ausgetragen. Von Mundschutz und anderen Vorsichtsmaßregeln konnte keine Rede sein. Schon im ersten Kampf gab es eine wüste Balgerei, und ein schwer angeschlagener Boxer wollte nach zwei Runden aufgeben. Pfeifkonzert im Saal. Also ging der Kampf weiter. Nach einem kräftigen Haken lagen zwei Stiftzähne auf der Matte, und ihr Besitzer wurde ausgezählt. Müller, der mangels eines geeigneten Kontrahenten als Ringrichter fungieren mußte, hätte getrost bis fünfzig zählen können. Der zusammengeschlagene Faustkämpfer wurde ins Lazarett getragen.
    Im Fußball standen die Küchenbullen mit ihrer Mannschaft bald an der Tabellenspitze. Sie waren am besten genährt und konnten an Schußstärke und Kondition von keiner Mannschaft übertroffen werden. Ihr bester Stürmer hieß mit Spitznamen Halifax, nach dem bekannten viermotorigen Bomber der Royal Air Force. Wenn Halifax aufs Tor schoß, waren alle Künste der leichtgewichtigen Torhüter vergebens.
     
    Anfangs gab es nur britische Zeitungen im Lager. Wer die englische Sprache beherrschte, übersetzte seinen Kameraden einige Artikel, manchmal auch nur die Schlagzeilen. Ein buntes Gemisch aus Politik und Sport, Banküberfall und Gesellschaftsklatsch, Mode und Welthandel, flotten Puppen und schweren Jungs. Der Leser konnte sich heraussuchen, was ihm gefiel. Die Zeitungen waren im Lager sehr beliebt. Sie wurden gelesen oder durchgeblättert und gingen dann, in handliche Stücke zerrissen, den Weg allen Papiers.
    Im Frühjahr 1946 kamen erstmalig auch deutsche Zeitungen ins Lager - aus der britischen Besatzungszone, mit einer Lizenznummer der Militärregierung. Was sie über WeItpoIitik berichteten, war ein verdünnter Aufguß der englischen Presse. Über Palästina, wo schwere Kämpfe tobten, über Aufstände in den britischen und französischen Kolonien und andere den Besatzern unerwünschte Themen durfte kein Wort

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