Irrfahrt
bestrebt, die deutsche Industrie unter ihren Einfluß zu bringen und diesen Einfluß auch auf die britische und französische Besatzungszone auszudehnen. Für Kreutzmann waren das «ganz normale» Auseinandersetzungen zwischen imperialistischen Mächten.
Die Unternehmer an Rhein und Ruhr zogen schon wieder eifrig an den Fäden. Sie blieben zunächst hinter den Kulissen und schickten ihre Beauftragten in die neugegründeten Organisationen, denn die meisten von ihnen waren stark diskreditiert. «Sie haben die Nazipartei finanziert und Hitler in den Sattel gehoben», sagte Kreutzmann. «Für die Monopolherren, die Rüstungsfabrikanten und Finanzkapitäne ist der Krieg das große Geschäft; sie sind die eigentlichen Kriegstreiber und gehören zuallererst auf die Anklagebank ... »
Diese Betrachtungsweise war für Gerber völlig neu.
Die bei den ungleichen Männer trafen sich nun öfter. Harald Kreutzmann war gelernter Möbeltischler, genau wie sein Vater, und stammte aus Thüringen, aus der Nähe von Zeulenroda. Das Schicksal der antifaschistischen Familie war für Gerber ein Stück Anschauungsunterricht.
Anfangs hörte er geduldig zu, was Kreutzmann sagte. Vieles an seiner Terminologie kam ihm fremd vor, schlagwortartig. Die Plutokraten bezeichnete er dauernd als «Kapitalisten». Immer deutlicher merkte Gerber, daß Kreutzmann ihm «proletarische Ideologie» beibringen wollte.
Nein, das ist nichts für mich, überlegte er in einer stillen Stunde. Er glaubt alles besser zu wissen, dabei hat er nur die Volksschule besucht und kann Fremdwörter nicht einmal richtig aussprechen. Arbeiter ist eben Arbeiter, und Bürger ist Bürger.
Bald kamen weitere Briefe aus der Heimat. Brämmel, mit seinem steifen Knie wehruntauglich, hatte als einziger im Herbst 1944 ein vollwertiges Abitur gemacht und studierte jetzt in Jena. So ein Glückspilz, dachte Gerber neidisch.
Stolt, der kurz nach Kriegsende aus der britischen Gefangenschaft entlassen worden war, konnte sich das Bummelleben nicht abgewöhnen. Er war zu bequem, noch einmal die Schulbank zu drücken. Lieber zog er einen gewinnbringenden Handel mit Radioteilen auf, die größtenteils aus Wehrmachtbeständen stammten. Dabei hatte man ihn erwischt und seine Vorräte beschlagnahmt. Nun durfte er ein Jahr lang darüber nachdenken, wie falsch er seinen neuen Lebensweg gestartet hatte.
Wolfram Diederich saß in Göttingen, britische Besatzungszone. Sein Vater, der stramme SA-Mann von einst, hatte den sowjetischen Einflußbereich rechtzeitig verlassen. Wolfram erledigte für einen britischen Offizier kleine Geschäftchen auf dem schwarzen Markt. Als Gegenleistung durfte er studieren, obwohl er kein reguläres Abitur hatte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er außerdem mit Artikeln, die er für ein von den Besatzern lizenziertes Blättchen schrieb.
Ein wichtiger Schritt zur Demokratisierung des Lagers waren die ersten Wahlen. «Jede Baracke bestimmt in geheimer Wahl den Barackenältesten. Alle Insassen der Baracke sind berechtigt, sich als Kandidat aufstellen zu lassen. Für die Wahl ist eine Wahlkommission zu bilden, die aus dem ältesten Bewohner als Vorsitzenden und den zwei jüngsten als Beisitzern besteht. Für den Fall jedoch, daß der älteste Bewohner die Absicht hat, selbst als Kandidat ... »
Drei Seiten umfaßten die Weisungen des Lagerkommandanten: Wahlvorbereitung, Kandidatenaufstellung, Zettelwahl, Auszählung, Verkündung des Wahlergebnisses, Bericht an die Lagerleitung, Einspruch gegen das Wahlergebnis.
Je näher der große Tag rückte, desto mehr erregten sich die Gemüter. Die jüngeren, unter dem Naziregime aufgewachsenen Männer hatten eine Wahl noch nie erlebt. Gerber wollte natürlich Rolf Ulbert vorschlagen, aber ein anderer kam ihm zuvor. «Nimmst du die Kandidatur an?» fragte der Vorsitzende der Wahlkommission entsprechend seinen Instruktionen.
«Nein», sagte Ulbert.
Mehrfach hatte die britische Lagerleitung einen Barakkenältesten zur Rechenschaft gezogen, sobald in dessen Hütte Mißstände auftraten. Ulbert scheute die Verantwortung. «ln der Masse untertauchen, sich nicht exponieren» - derartige Gedanken hatte er zu Gerber des öfteren geäußert, besonders in letzter Zeit.
Gerber war peinlich berührt. Bei allem Verständnis für die vorsichtig-abwägende Haltung seines Freundes, eine Ablehnung hatte er nicht erwartet. Durfte man sich überhaupt weigern, wenn ein so ehrenvoller Ruf laut wurde? Durfte man zurückstehen, wenn andere
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