Irrfahrt
ein Vorbild brauchten?
Schließlich wurde der bisherige Barackenälteste, der seine Arbeit ordentlich gemacht hatte, vorgeschlagen. Nach der Wahl stellte sich heraus, daß die meisten Baracken ähnlich verfahren waren. Gerbers Kommentar: «Das Establishment hat auf der ganzen Linie gesiegt!» Nur wenige Hüttenscheiche, die bei den Kameraden unbeliebt waren, mußten ihren Posten abgeben.
Die Vorträge im Lager wurden jetzt interessanter. Ein Parlamentarier aus Cardiff sprach über das Wahlsystem in Großbritannien. In der Diskussion betätigte sich Harald Kreutzmann erfolgreich als «Führer der Opposition»: Wahlkreiseinteilung und Wahlsystem, die Rolle des Oberhauses und manches andere nahm er kritisch unter die Lupe. Gerber hatte ihm aus britischen Büchern die einschlägigen Artikel übersetzt, und anhand genauer Aufzeichnungen bereitete Kreutzmann seine Fragen vor.
Pastor Martin Niemöller kam ins Lager. Dieser Mann, dessen Name häufig in den Zeitungen stand, konnte eine bewegte Vergangenheit aufweisen. Im ersten Weltkrieg hatte er als Kapitänleutnant und Kommandant eines U-Bootes dem Kaiser gedient, war dann aus Protest gegen die Barbarei des Krieges Theologe geworden. In der Nazizeit gehörte er zur Leitung der Bekennenden Kirche. Mutig trat er gegen die Eingriffe der Hitlerregierung in innerkirchliche Angelegenheiten auf und prangerte die faschistische Rassenideologie an. 1937 wurde er verhaftet und acht Jahre lang im Konzentrationslager gefangengehalten.
Für die meisten Kriegsgefangenen war Pastor Niemöller der erste Augenzeuge aus jenen furchtbaren Vernichtungsstätten. Eindringlich sprach er über die Kollektivschuld des deutschen Volkes, über die Pflicht zur Sühne und Wiedergutmachung. Es gäbe viele gleichgültige Menschen in Deutschland, die mit einem Achselzucken über das Geschehene hinweggingen.
In den westlichen Besatzungszonen war der Höhepunkt der Entnazifizierung und des Schuldbewußtseins bereits vorüber. Serienweise wurden leitende Nazis von den Spruchkammern als «Mitläufer» eingestuft. Erste Anzeichen für einen wiederaufkeimenden Antisemitismus waren kaum zu übersehen.
Ein Gewerkschafter aus dem Ruhrgebiet erzählte vom schwierigen Anfang. Die Produktion wurde durch Stromsperren und Demontagen, durch Fehlschichten und Geldentwertung stark behindert. Nicht einmal die Bergarbeiter, die vor Ort schufteten, erhielten genügend Kohlen, um ihre Stube zu heizen.
Aus Ostberlin berichtete ein Studienrat vom neuen Bildungswesen. Materiell stand er sich als Leiter einer Oberschule recht gut. Er bekam die Lebensmittelkarte eines Schwerarbeiters. Geistige Arbeit wurde bei der sowjetischen Besatzungsmacht ebenso hoch bewertet wie körperliche Arbeit. Das fanden viele Männer im Lager bemerkenswert. In den anderen Besatzungszonen waren die Intellektuellen nur Angestellte und bekamen die sogenannte Friedhofskarte. Wer auf diese Zuteilung allein angewiesen war, konnte verhungern.
Einige Aufregung verursachte der Bürgermeister einer kleinen Hafenstadt an der Nordsee. Nach seinem Vortrag wurde er scharf kalibriert: «Stimmt es, daß in der Nordsee deutsche Minensuchboote fahren, mit einer deutschen Besatzung?» Diese Frage unterschätzte wohl der Bürgermeister, denn er sagte eifrig: «Natürlich stimmt das! Nach Beseitigung der Minen wird der Handel wieder aufblühen, vor allem der Touristenverkehr, auf den unsere Stadt angewiesen ist.»
Den gleichen Vortrag hatte er, wie die Diskussion ergab, vor wenigen Tagen in einem Offizierslager gehalten. Jüngere Herren mit einer goldenen Leiste an ihren Schirmmützen hatten ihn gefragt, wo sie sich für diese Einsätze melden könnten. Das wüßte er bedauerlicherweise nicht, aber er versprach, Gesuche um Aufnahme in diese «Labour Units» sofort weiterzuleiten. Daraufhin hatten mehrere Offiziere ihren Namen auf eine Liste gesetzt, die nun der Bürgermeister stolz vorzeigte. Die Herren wollten möglichst bald wieder dabeisein. Er würde versuchen, ihre beschleunigte Entlassung durchzusetzen oder zumindest vorzuschlagen.
«Die letzten Offiziere der Kriegsmarine» mußten sich noch ein wenig gedulden. Sie wollten die letzten sein, aber sie kamen zu spät, um die ersten in der neuen Kriegsmarine zu werden. Was hatte Churchill kurz vor Kriegsende befohlen? Die Gewehre und Waffen der Deutschen sind sorgfältig einzusammeln und aufzubewahren! Die Geschütze der alten M-Böcke waren zwar abmontiert, standen jedoch gut verpackt in den Schuppen. Das
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