Irrfahrt
konnte der Bürgermeister mit einem Augenzwinkern bestätigen. Und falls sich hier im Lager jemand freiwillig melden wollte ...
Es wollte niemand. Harald Kreutzmann und seine Freunde wollten ganz etwas anderes. Sie ließen die Katze aus dem Sack: Die Meldung über die Aktivität deutscher Minensucher war von Radio Leipzig verbreitet und vom Sender Hamburg im Auftrage der Besatzungsmacht dementiert worden.
Jetzt erst merkte der Bürgermeister, daß es falsch gewesen war, über diese heiklen Dinge zu sprechen. Leider gab es im Lager keinen Jordy, der an seinen Abgeordneten schrieb, sonst hätte der höchst ehrenwerte Herr Kriegsminister wieder unangenehme Fragen beantworten müssen.
Über den gemeinsamen Erfolg freuten sich Gerber und Kreutzmann. Rolf Ulbert nahm die Blamage des Bürgermeisters sehr gelassen auf. Er vermied es nach Möglichkeit, mit Kreutzmann ins Gespräch zu kommen. Der junge Arbeiter war ihm offenbar nicht fein genug.
Harald Kreutzmann war ein Kumpel, wie sich bald zeigte. Er besaß viel handwerkliches Geschick. Aus ein paar alten Kistenbrettern, die irgendwo umherlagen, bastelte er für Gerber einen richtigen kleinen Schrank. Stifte aus Hartholz dienten als Nägel. Gerber kam aus dem Staunen nicht heraus.
Holznägel? «Damit haben sowjetische Pioniere im Kriege sogar Brücken gebaut, Brücken für schwere Lastwagen», sagte Harald. «Besser eine Brücke mit Holznägeln als gar keine.»
Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher war zu Ende. Er hatte fast ein Jahr gedauert. Vermutungen wurden angestellt, welche Urteile das alliierte Militärtribunal verhängen würde. Am Lautsprecher konnten die Gefangenen mithören, was der Lordrichter verkündete: Zwölfmal kamen die Worte «death by hanging» vor. Zwölf Todesurteile! Darunter für Keitel und Jodl.
Schacht, von Papen und Fritzsche wurden freigesprochen - gegen die Meinung des sowjetischen Vertreters. Alle übrigen Angeklagten erhielten hohe Gefängnisstrafen; Heß, Funk und Raeder lebenslänglich. Der Großadmiral Dönitz aber kam mit zehn Jahren Haft davon.
Immer noch gab es Zweifel, ob die Todesurteile vollstreckt werden würden. «Das ist unmöglich», sagte ein Fahnenjunker-Unteroffizier von der Luftwaffe. Voller Stolz auf seinen Dienstrang, der schon längst nichts mehr bedeutete, hatte er sich mit Silberfäden die Tressen einschließlich der zwei Querbalken auf seine Affenjacke genäht.
Eine Wette wurde ihm angeboten: Göring hängt! Sein Partner war ein weibisch aussehender Feldwebel, der sich eine riesige Künstlermähne mit eingebrannten Locken hatte wachsen lassen. Aus Mangel an Wertsachen vereinbarten die beiden Kontrahenten, daß dem Verlierer eine Glatze geschoren werden sollte.
Der 16. Oktober 1946 war der Tag für die Vollstreckung der Todesurteile. Im Gefängnis waren drei grüne Schaffotte errichtet und die Schlingen geknüpft. Amerikanische Freunde besorgten ihrem alten Geschäftspartner Hermann Göring eine Ampulle mit Zyankali, um ihm die Qualen der Hinrichtung zu ersparen.
Der Feldwebel mit der Künstlermähne hatte seine Wette verloren. Deren Vollstreckung erregte im Lager weit mehr Aufsehen als die Hinrichtungen in Nürnberg.
21. Kapitel
Handel und Wandel
Und wieder kam der Winter, kam mit Nebelschwaden, Nässe, Sturm und Kälte. Es war nun schon der dritte, den Gerber in Gefangenschaft verbrachte.
Die langen dunklen Abende mußten irgendwie ausgefüllt werden. Wer über Spezialkenntnisse verfügte, kündigte am Schwarzen Brett einen Vortrag an. Ob Kaninchenzucht oder griechische Kunst, Tabakbau oder die Ursachen des Nordlichtes, Hochfrequenztechnik oder Edelsteinschleiferei: alle Themen fanden ihr Publikum.
Ein Bankdirektor aus Dresden, der in einem Verpflegungslager an der Nordsee recht gut über den Krieg gekommen war, sprach über die Gepflogenheiten des Börsenwesens. Auf diese Weise erfuhr Gerber, was «Parkett» und «Kulisse» ist, welche Aufgaben ein Kursmakler wahrnimmt, worin sich Aktien, Obligationen und Kuxe unterscheiden, wie man ein neues Wertpapier an der Börse einführt und mit welchen Methoden die Haussisten, wenn sie gerade einig sind, einen Corner bilden, um die Preise für ein Erzeugnis in die Höhe zu treiben. Denn ganz nebenbei, das gab der beflissene Dresdener zu, wurde an der Börse auch spekuliert. Das war immer schon so, und das würde Gott sei Dank in Zukunft auch so bleiben.
Zwischenfrage aus der Zuhörerschaft: «Wenn an der Börse spekuliert wird, könnte man doch
Weitere Kostenlose Bücher