Irrfahrt
Lebensmittelversorgung. Die Rübenmarmelade wurde beschlagnahmt und am nächsten Morgen zum Frühstück ausgegeben, für alle. Die Frauen durften wieder nach Hause. Nach Hause, nicht nach Sibirien.
Für Gerber lag ein Brief bereit. Absender: Harald Kreutzmann, aus einer kleinen Ortschaf t im Kreis Rudolstadt. Vorstudienanstalt der Universität Jena. Ach du meine Güte, dachte Gerber, jetzt dreht ihn womöglich mein alter Herr durch die Mangel. Armer Harald!
Doch so arm schien sich Harald gar nicht vorzukommen. «Ich soll das Abitur machen und Wirtschaftswissenschaf t studieren. Betrachte das als Auszeichnung ... In manchen Fächern große Schwierigkeiten bei meiner kümmerlichen Schulbildung in der Nazizeit ... Wenigstens in Russisch eine gute Zensur. Bin Dir dankbar, daß Du mich geschliffen hast, mit Grammatik und so... Unser Direktor unterrichtet Deutsch und Latein. Stell Dir vor, der heißt zufällig auch Gerber. Er hat sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Dir, besonders im Wesen ... »
Harald Kreutzmann, der Tischler, wird auf ein Studium in Jena vorbereitet. Alle Achtung! Vielleicht habe ich Glück, und wir sehen uns dort wieder.
Gerber erinnerte sich, was Harald wenige Tage vor dem Abschied zu ihm gesagt hatte. «Du mußt noch viel lernen, Gerhard. Ich meine jetzt nicht irgendein Fachwissen, sondern die Erkenntnis, daß die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Deine Wandlung hat gerade erst begonnen. Auch für dich gibt es eine neue, bessere Zukunft. Du mußt den neuen Weg nur finden woIlen.»
Den Weg finden! War das überhaupt möglich nach all den Enttäuschungen? Die ganze Jugend war verpfuscht. Wie hatte man sie belogen und betrogen - auf der Schule, im Arbeitsdienst. Großdeutscher Freiheitskampf! Deutschlands größte Zeit! Eine kleinere Zeit wäre Gerhard lieber gewesen. Und nun? Deutschland war geschrumpft, zerrissen, besetzt. Konnte er da an eine neue, bessere Zukunf t glauben?
Und wie so oft, wenn Gerber Antwort suchte auf quälende Fragen, nahm er seine Zuflucht zu den Büchern. Die gab es reichlich in der Lagerbibliothek. Renn «Adel im Untergang» war gerade ausgeliehen, Seghers «Das siebte Kreuz» beim Buchbinder, Rein «Finale Berlin» durfte nur im Lesesaal benutzt werden; es war zu kostbar, wurde dauernd verlangt.
Womit fange ich an, dachte Gerber. Ganz vorn, dort, wo mich dieser Scheißkrieg von der Schulbank weggeholt hat. Und zum Erstaunen seiner Zimmergenossen nahm er ein Buch, das unbeachtet im untersten Regal stand: «Die Irrfahrten des Odysseus».
Von diesem klassischen Werk der Weltliteratur fühlte sich Gerber auf merkwürdige Weise angesprochen. War nicht auch sein bisheriges Leben eine Irrfahrt gewesen, ein Schicksal, dem er nicht entrinnen konnte?
Die berühmten Fahrten des Odysseus dauerten zehn Jahre. Odysseus zog mit einem Dutzend Schiffen in einen Krieg, der eine große Stadt vernichtete. Gerber zog mit seinen Schiffen in einen Krieg, der große Städte hundertfach vernichtete. Odysseus kämpfte gegen übermächtige Ungeheuer und blieb Sieger. Gerber kämpfte gegen eine ungeheure Übermacht und wurde geschlagen. Ein großer Zauberer weissagte Odysseus zahlreiche Abenteuer, und seine Prophezeiung erfüllte sich. Ein großer Scharlatan weissagte Gerber eine glanzvolle Zukunft, aber seine Prophezeiung erfüllte sich nicht. In den Kämpfen, die Odysseus zu bestehen hatte, verloren viele seiner Gefährten ihr Leben. Der große Krieg, in den Gerber zog, verschlang alle seine Freunde. Um den Klängen der Sirenen zu entgehen, befahl Odysseus seinen Gefährten, sich die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Gerber aber segelte unter den Klängen der Sirenen ins Unheil. Schließlich wurde das Schif f des Odysseus zertrümmert, und er kam nur knapp mit dem Leben davon. Arm und ohne die versprochene Kriegsbeute gelangte er nach Hause.
Parallelen und Unterschiede. Eines aber hatte Gerber mit Odysseus gemeinsam: Er kehrte durch vielfältige Erfahrungen gereift in die Heimat zurück.
Worterklärungen
abmustern - das Arbeitsrechtsverhältnis auf einem Handelsschiff lösen.
achteraus - hinter dem Schiff.
achterlastig - nicht auf ebenem Kiel; Achterschiff hängt tiefer als Vorschiff.
achtern - hinten.
Achtersteven - Hinterer Abschluß des Schiffes.
Ahmings - Bezeichnung am Schiffsbug und -heck über zulässige Tauchtiefe.
all hands - (eng!.) alle Hände; Ruf des Oberbootsmannes, wenn zu schwierigen Arbeiten alle verfügbaren Arbeitskräfte
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