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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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größeren Zuschnitt. Sogar Engländer kamen jetzt in die Barakken, verhandelten mit ihren Partnern und gaben Bestellungen auf. Eine Drehbank, die zur Ausrüstung einer amerikanischen Panzerdivision gehört hatte und für die Werkstatt bestimmt war, wurde samt allem Zubehör aus der Lagerhalle gestohlen und auf einem Lastwagen in die nächste Ortschaft verbracht. Ihr Preis betrug, wie jeder im Lager wußte, dreihundert Pfund. Entschuldigend erklärten die Großen, die Summe ginge ja schließlich in viele Teile.
    Ganz offiziell durften die Gefangenen nun auch englisches Geld besitzen. Sie fuhren mit dem Bus in die Stadt, leisteten sich dort ein Bier, gingen ins Kino. Den Reichen standen dank ihres Geldbeutels noch andere Genüsse in dunklen Seitenstraßen offen, wo Damen ihr nächtliches Tagwerk vollbrachten.
    Im Lager tauchte regelmäßig ein Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes auf. Er sollte die Einhaltung der Genfer Konvention überwachen. Der Form halber warf er einen Blick in die Küche, ging durch das Krankenrevier oder sprach mit dem Lagerkommandanten. Aber das nahm den geringsten Teil seiner Zeit in Anspruch. In der Hauptsache war dieser biedere Schweizer ein gewiegter Geschäftsmann, der mit einer unverfänglichen Flagge segelte. Seine Fahrten bezahlte die Organisation, er benutzte sie, um zahlreiche Geschäftchen mit großen und kleinen Partnern zu erledigen. Der Luxemburger lieferte ihm lastwagenweise, was in manchen Gegenden knapp war und mit Gewinn abgesetzt werden konnte. Bei derartigen Transaktionen spielten nationale Unterschiede keine Rolle.
    Das Wirtschaftsleben im Lager war der Vorgriff auf eine Entwicklung, die sich draußen anbahnte. Auch im westlichen Deutschland gab es viele Geschaftsleute, die Morgenluft witterten. Sie wollten ihre alten Beziehungen erneuern und wieder dort anfangen, wo sie 1939 aufgehört hatten.
    Gerber sprach mit Rolf Ulbert darüber. Die verschobene Drehbank lieferte den Anlaß. Ulberts Kommentar war inhaltlos: «Da kann man nichts machen. Korruption der Lagerleitung! Das gibt es überall und immer. In Deutschland werden noch ganz andere Objekte verschoben!»
    Nur mit Mühe verbarg Gerber seine Enttäuschung. Ulbert hatte sich sehr verändert. Er war gleichgültig geworden und hielt sich aus allem heraus. Ihre offenen, freundschaftlichen Gespräche gehörten der Vergangenheit an.
    Da war Kreutzmann aus einem anderen Holz geschnitzt. Der ließ sich nicht unterkriegen. Manchmal ärgerte sich Gerber über die Sturheit, mit der Harald seine Meinung vertrat, aber irgendwie fand er diese Prinzipientreue doch eindrucksvoll. Zähigkeit hatte ihm schon immer gefallen.

 
    22. Kapitel
    Heimkehr
    Endlich wirkten sich die Lockerungsmaßnahmen im Lager auch auf die verhaßten Zählungen aus. Für ihre Durchführung war jetzt die deutsche Lagerleitung verantwortlich. Sie entledigte sich dieser Aufgabe weitaus zügiger als der pingelige britische Lageroffizier.
    Nur einmal in der Woche mußten die Gefangenen antreten. Es kam kaum noch vor, daß jemand zu fliehen versuchte, obwohl das bei der lässigen Bewachung leicht möglich gewesen wäre. Die Männer wußten, daß es sich nicht lohnte. Ein nahtloses britisches System sorgte dafür, daß die Ausreißer wieder aufgegriffen wurden. Dann wanderten sie für einige Zeit in den sehr unbeliebten Knast.
    Auf Anfrage des Unterhauses hatte der Minister mitgeteilt, daß in den letzten drei Jahren über sechstausend Gefangene ausgerückt waren. Aber nur zweiundzwanzig hatten es geschafft, und von denen konnte er - bis auf zwei Ausnahmen - das Aufenthaltsland angeben. In die Heimat war niemand gekommen.
    Der Minister ließ diese Mitteilung in allen Lagern bekanntgeben. Sie war ein besserer Schutz gegen Ausbruchversuche als meterhohe Stacheldrahtverhaue.
    Eines Morgens dauerte die Zählung außergewöhnlich lange. Immer wieder wurde von vorn begonnen. Ein Mann fehlte. Bis man festgestellt hatte, um wen es sich handelte, verging der halbe Vormittag. Die Arbeitskommandos waren wütend, denn sie mußten die ausgefallenen Stunden abends nacharbeiten. Darin war die Lagerleitung unerbittlich.
    Wegtreten, große Suchaktion. Auch die letzten Winkel des Lagers wurden durchstöbert. Schließlich fand man den Fehlenden: Er hatte sich in einer leeren Baracke erhängt.
    Der Selbstmörder hinterließ einen Brief. Seine Familienangehörigen waren tot, das Vaterhaus lag in Schutt und Asche. Zermürbt von der langen Wartezeit und der Ungewißheit einer

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