Irrfahrt
beruflichen Zukunft als Goldschmied hatte er diesen Verzweiflungsschritt getan.
Schwärme von Reportern bevölkerten das Lager. Das Parlament machte gerade Sommerferien, die Theater spielten nicht, auch die Fußballer hatten Pause, aber die Zeitungen mußten täglich erscheinen in vollem Umfang, mit acht Seiten. Also stürzten sich die Presseleute auf jedes Ereignis, das halbwegs Stof f zu Sensationsberichten hergab. Morde und Selbstmorde nahmen schon immer einen großen Teil der Zeitungsspalten ein. Die Leiche des armen jungen Mannes wurde photographiert, für einige «Schnappschüsse» durfte sie sogar noch einmal kurz an den Strick gehängt werden.
Manches an den Berichten stimmte, anderes war entstellt oder maßlos übertrieben. Gierig versuchten die Reporter, das letzte aus dem makabren Vorfall für eine Story herauszuholen. Ein Berichterstatter wurde von seinem Chef gefeuert, weil er dreißig Zeilen weniger an die Redaktion geschickt hatte, als dann das Konkurrenzblatt brachte. Kein leichter Job.
Was stand noch in dem Brief? Der gefangene Deutsche wußte nicht, wann er die Heimat wiedersehen würde. Na bitte, das war eine gute Gelegenheit, der Labour-Regierung eins auszuwischen. Der Kriegsminister hatte es versäumt, einen Plan für die Entlassung der Kriegsgefangenen auszuarbeiten.
Kriegsminister war seit einigen Wochen ein Herr namens Shinwell. Er war das schwarze Schaf in der Labour Party. Lange Jahre Gewerkschafter, besaß er doch genügend Anhang, daß man ihn bei der Besetzung der Ministerämter nicht übergehen konnte. Shinwell hatte einmal - noch vor dem Kriege - anläßlich einer hitzigen Debatte im Unterhaus den geheiligten weißen Strich in der Mitte des Raumes übertreten und einem Abgeordneten auf der gegenüberliegenden Seite eine schallende Ohrfeige verabreicht. Das war im höchsten Grade unparlamentarisch und zog disziplinarische Maßnahmen nach sich, verschaffte aber dem schlagfertigen Herrn eine gewisse Popularität.
Sein Ministeramt hatte Shinwell mehr schlecht als recht geführt. Bei einer Umbesetzung wurde ihm der in Friedenszeiten geringere Posten des Ministers of War übertragen. Shinwell wußte, daß nun der kleinste Fehltritt genügte, und er würde endgültig seine fette Pfründe loswerden.
Flugs eilte er aus dem Urlaub nach London und berief eine Pressekonferenz ein. Um der Kritik die Spitze abzubrechen, kündigte er einen angeblich schon aufgestellten Plan für die Heimführung aller Gefangenen an, dessen Verwirklichung binnen sechs Wochen beginnen sollte. Jeder Deutsche würde in Kürze erfahren, wann er mit seiner Rückkehr zu rechnen hatte. Und zu den Olympischen Spielen im Sommer 1948, die in London stattfanden, sollten die letzten POW's die Insel verlassen haben.
So sprach der Minister. Die Presse brachte seine Stellungnahme im Wortlaut, drehte sie durch die Mühle ihrer Kommentatoren und noch einige Tage durch ihre Leserbriefspalten. Aber das Interesse der Öffentlichkeit hatte sich bereits anderen Ereignissen zugewendet.
Im September begannen wieder zahlreiche Kurse. Ein Fach war zum erstenmal vertreten: russische Sprache für Anfänger.
Gerber schrieb sich ein. Den Unterricht erteilte ein Deutscher, der bis 1919 in Petersburg gelebt hatte. In Petersburg, nicht in Leningrad, wie er ausdrücklich betonte. Seine Mutter war gebürtige Russin und schrieb ihm Briefe in ihrer Sprache, die er gelegentlich vorzeigte.
Das Lehrbuch, von einer christlichen Organisation als Nachdruck herausgegeben, taugte nicht viel. Im Vorwort hieß es: «Die in den Übungs- und Lesestücken verwendeten Beschreibungen und Unterhaltungen aus dem täglichen Leben stellen nicht die Zustände im heutigen Sowjet-Rußland dar.» Schade! Gerber hätte so gern mehr erfahren über das große Land. Und noch ein Teilnehmer des neuen Zirkels bedauerte diesen Umstand: Harald Kreutzmann. Der Leiter wollte ihn eigentlich nicht zulassen, denn seine Vorkenntnisse waren unzureichend. Kein Wunder! Kreutzmann hatte niemaIs eine Fremdsprache erlernt. Gerber erteilte ihm Nachhilfeunterricht in Grammatik. Harald wollte es schaffen, und mit gehörigem Fleiß gelang es auch.
Nicht jeden Abend konnte man büffeln. Zur Abwechslung gingen Harald und Gerhard ins Kino. «Unter zwei Bannern», ein amerikanischer Film über das Schicksal eines Fremdenlegionärs. Brutale Grausamkeit und sentimentaler Kitsch. Banner heißt im Russischen znamja. Substantive auf -mja sind Neutrum. Zum Glück gibt es davon nicht viele: vremja
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