Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
Vom Netzwerk:
Englischkenntnisse vervollkommnet und konnte ein bißchen Russisch. Ein bißchen war besser als gar nichts. Sein Vater schrieb in einem der letzten Briefe, daß Russisch jetzt Pflichtfach an den Schulen war. Es mangele aber noch an guten Lehrkräften.
     
    Der Plan zur Heimführung der Kriegsgefangenen wurde bekanntgegeben. Riesige Scharen aufgeregter Männer drängten sich vor dem Schwarzen Brett. Die Einteilung erfolgte in Gruppen, je nach Dauer der Gefangenschaft. Wer am längsten hinter Stacheldraht saß, hatte die niedrigste Nummer und durfte zuerst heimfahren.
    Kreutzmann kam in die Gruppe elf, Gerber in die Gruppe zwanzig.
    Aufruf: Alle Mitglieder der Gruppen eins, zwei und drei werden aufgefordert, sich in der Schreibstube zu melden. «Da muß ich ja noch lange warten», seufzte Gerber. Ein kleiner Trost, daß die Helden von den Kanalinseln, die sich als «entwaffnetes Personal» mit Vorzugsrechten betrachteten, die höchste Nummer erhielten.
    Im Lager brach nun das Fieber aus: Holzkoffer wurden angefertigt, Reisevorbereitungen getroffen, auch wenn die Entlassung erst in einigen Wochen oder sogar Monaten erfolgte. Rolf Ulbert packte jeden Tag fünfmal seinen Koffer neu. Die Krankheit war unheilbar; dagegen halfen weder Pillen noch kalte Umschläge.
    So klar und eindeutig die Bestimmungen waren, es gab doch Abstufungen. Jeder Gefangene hatte nicht nur die Gruppenbezeichnung, sondern auch seine politische «Blutgruppe». Als die «Elfer» an die Reihe kamen, wartete Harald Kreutzmann vergebens. Heimweh saß ihm ebenso im Herzen wie den anderen Männern, aber er war als Kommunist abgestempelt, und da ließ man ihn schmoren.
    Die Gruppen zwölf und dreizehn wurden aufgerufen, und Harald saß immer noch im Lager. Er trug es mit Haltung. Diskriminierungen hatte er häufig erlebt: in der Schule, im Beruf, beim Barras und auch in der britischen Gefangenschaft. Damit konnte man ihn nicht von seiner Überzeugung abbringen.
    Im November kam dann der Tag des Abschieds. «Mach's gut, Langer», sagte Kreutzmann und drückte Gerber kräftig die Hand. «Meine Adresse hast du ja. Und nochmals vielen Dank für alles.»
    Gerber blinzelte. Langer - so hatten ihn seine Schulfreunde genannt. Er sah, wie Kreutzmann davonging, und plötzlich fühlte er sich sehr allein in dem großen, halbleeren Lager.
     
    Die Heimführung der Gefangenen hatte noch eine andere Folge, die niemand voraussah: Bei Obermeyers Frau in München erschienen eines Abends drei Männer mit Knüppeln und fragten, ob der Lagerführer Werner Meyer schon eingetroffen sei. Die Männer waren entschlossen, ihm seine Schikanen gegen Lagerinsassen mit einer gehörigen Tracht Prügel heimzuzahlen.
    Postwendend berichtete die entsetzte Frau ihrem Werni von dem Ereignis. Obermeyer lief wie ein aufgescheuchtes Huhn im Lager umher und versicherte jedem, daß er unschuldig sei. Nur «auf Befehl» habe er die unbeliebten Maßnahmen durchgeführt. Doch das nutzte wenig, denn man hielt ihm unmißverständlich die Faust unter die Nase. Auf Befehl? Das hatten die Kriegsverbrecher in Nürnberg auch behauptet!
    Daraufhin wurde Obermeyer viel zahmer. Es war wirklich bedauerlich, daß die Heimführung der Gefangenen so spät einsetzte.
     
    Endlich, nach qualvollen Wochen, schlug auch für Gerhard Gerber die Stunde. In der Schreibstube mußte er einen Fragebogen ausfüllen. Personalien, Dienstgrad, Waffengattung, Truppenteil- das war in wenigen Minuten erledigt. Ein kniffliger Punkt blieb übrig: In welche Besatzungszone wollen Sie entlassen werden?
    Gerbers Eltern wohnten seit kurzem in Thüringen, im Kreis Rudolstadt. Der Vater hatte sich entschlossen, die Stelle des Direktors einer Vorstudienanstalt anzunehmen. Rudolstadt gehörte zur sowjetischen Besatzungszone. Und hier lag der Haken. Es bestanden zwei Möglichkeiten: Entweder man gab die britische Zone an, um unbequemen Fragen zu entgehen und einige Tage früher entlassen zu werden. Dort konnte man bleiben, heimatlos und ohne Quartier, oder schwarz über die grüne Grenze wandern, was nicht ungefährlich war. Oder man wählte den ordnungsgemäßen Weg.
    Dazu entschied sich Gerber. Er schrieb den Wohnort seiner Eltern auf die Karte.
    Am nächsten Morgen wurde er zum Dolmetscher-Sergeant bestellt, der ihm einen langen Vortrag hielt. «Großes Risiko» und «Verschickung nach Sibirien)} kamen darin vor, Wer aus Großbritannien kam, wäre drüben verdächtig und würde bespitzelt. «Sie sind Ihres Lebens nicht sicher, Mann!»
    Doch

Weitere Kostenlose Bücher