Irrfahrt
Gerber blieb bei seinem Entschluß: Die britische Lagerleitung sah sich daraufhin veranlaßt, ohne sein Wissen ein deferment of repatriation für drei Monate auszusprechen, wozu sie laut Anweisung aus London berechtigt war. Natürlich habe das nichts mit seiner Wahl der Besatzungszone zu tun. In dieser Jahreszeit könne man doch keinem zumuten, eine so lange Strecke zurückzulegen. Es sei nur logisch, damit noch ein bißchen zu warten. Ja, wenn er Hannover als Heimatort angegeben hätte ...
Auch diese Zeit ging einmal zu Ende. Im Januar 1948 war es dann soweit: Sonderzug mit unbekanntem Bestimmungsort. Durch Südengland ging die winterliche Fahrt, vorbei an Schlössern und Parks, Fabriken, Elendsvierteln und den nördlichen Vororten Londons.
Harwich erreichten sie an einem trüben Vormittag. Typisches Nordseewetter: feucht, diesig und grauverhangen. Ein Verband Zerstörer lag in Päckchen vertäut. Gerber hatte diese schnellen Fahrzeuge in denkbar schlechter Erinnerung.
Überfahrt nach Hoek van Holland. Ein deutscher Sonderzug erwartete den Transport. Alte D-Zug-Wagen, die Scheiben größtenteils mit Pappe abgedichtet, Notsitze im Waggon. Nach einer Stunde Fahrt war die Grenze erreicht. Gespannt blickten alle aus den Fenstern. Zerstörte Städte, kümmerlich gekleidete Menschen, notdürftig wieder in Betrieb gesetzte Fabriken, winkende Frauen.
Fahrtunterbrechung. Ein diensteifriger Fettwanst mit einer goldenen Kordel an der Mütze baute vor dem britischen Transportleiter eine zackige Ehrenbezeigung. «Heimkehrer-Sonderzug nach Munsterlager, bitte einsteigen und die Türen schließen ... »
Munsterlager. Einheitsbaracken und Einheitsfraß. Junge Mädchen spazierten eingehakt mit britischen Soldaten im Lager umher. Schwarzhändler beherrschten das Feld. Kaum waren alle Mann auf die Baracken verteilt, kamen sie in Scharen angelaufen. Ein Dreipfundbrot für hundertundzwanzig Mark!
«Der Schwarzhandel gehört zum täglichen Leben, ist fester Bestandteil der Wirtschaft. Daran müßt ihr euch eben gewöhnen.» Irgendein Lagerleiter hatte das gesagt, wieder so eine fiese Type wie der Obermeyer.
Wer «Britische Besatzungszone» als Heimat angab, wurde am nächsten Tag mit einem Lastwagen abgeholt. Für Heimkehrer in die US-Zone stand ein geheizter Sonderzug bereit, eine Rarität im Nachkriegsdeutschland. Französische Zone: durchschnittlicher Personenzug, schwach geheizt und schwach beleuchtet.
Dann passierte drei Tage lang überhaupt nichts. Ein kleines Häuflein saß noch in den Baracken. Einige überlegten, ob sie ausrücken sollten. Schwarz über die Grenze? Man einigte sich, noch zwei Tage zu warten. Von der Lagerleitung wußte niemand Bescheid. «Ihr wolltet ja unbedingt ... »
Schließlich kam doch ein Zug. Unbeleuchtet, ungeheizt, ungesäubert. Fahrtziel: Helmstedt. Zwei Kilometer Marsch über die Grenze. Manche waren fest davon überzeugt, am Schlagbaum dicht an dicht pelzbemützte Russen mit finsteren Gesichtern und schußbereiten Maschinenpistolen zu sehen, dahinter Kommissare in Ledermänteln. Aber nichts dergleichen. Die Besatzungsmacht blieb zunächst unsichtbar.
Wieder ein Lager, das vorletzte. Eine riesige Papptafel mit Stalins Bildnis hing über dem Eingang. Freundliche Begrüßung durch einen Lagerleiter. «Wir brauchen euch, Kameraden. In der Heimat gibt es viel aufzubauen. Jeder muß anpacken.» Endlich eine andere Type als diese Obermeyers. Zwei Stunden später Abfahrt in die einzelnen Länder. Der Zug nach Thüringen fuhr als erster. Endstation Wutha. Quarantänelager.
Kaum waren alle Betten verteilt, begann auch schon das geschäftliche Treiben. Am Zaun standen Frauen und boten Lebensmittel an, im Tausch natürlich. Rübenmarmelade gegen Zwirn, Brot gegen Kaffee. Wie hatte jemand in Munsterlager gesagt? Der Schwarzhandel gehört zum täglichen Leben, ist fester Bestandteil der Wirtschaft. Na also, hier war es genauso. Die Züge waren nicht besser, und die Baracken in Wutha unterschieden sich kaum von den Baracken in anderen Teilen Deutschlands.
Was dann geschah, verschlug dem Heimkehrer Gerber fast die Sprache. Drei Mitglieder der Lagerleitung tauchten am Zaun auf, griffen sich die schwarzhandelnden Frauen und nahmen sie mit ins Lager. Vermutungen wurden laut: «Nun geht's ab nach Sibirien!»
Der Lagerleiter (Lagerführer gab es hier nicht) sprach lange und eindringlich von der Schädlichkeit des schwarzen Marktes, der Notwendigkeit ehrlicher Arbeit, der Gefährdung der
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