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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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- bremja - semja - znamja - vymja - temja - plemja - plamja und stremja. Was bedeutet eigentlich stremja? Der Filmheld schwang sich aufs Pferd, um in unwahrscheinlichem Tempo davonzugaloppieren ... Ach so, Steigbügel. Und mit so unwichtigen Vokabeln plagte man sich ab.
    Wir übersetzen: «In unserer Stadt kommen Fälle von Brandstiftung häufig vor. Zweifellos gibt es eine Bande von Dieben, Räubern und Brandstiftern.» Zustände waren das! Dabei war der Kursus erst bei der achten Lektion angelangt. Die schweren Brocken standen ihnen noch bevor, wie der Kursleiter versicherte.
    Gerber leistete Schwerarbeit. Kaum hatte er eine Lektion verdaut, mußte er sie Kreutzmann einpauken. Deklination mit allen sechs Fällen. Sechs! Die alten Lateiner waren glatt zu beneiden, sie hatten nur fünf. Anschließend alle neuen Vokabeln: lentjai der Faulpelz, popugai der Papagei, vorobiej der Sperling.
    Der Lagerzirkus gab eine Vorstellung. Bekannte Komiker wurden nachgeahmt. Karl Napp trat auf, in einem beinahe echten Kostüm. Sein Gehilfe Zacharias Zündloch war arbeitslos, weil man die Leute nach dem Alphabet einstellte. Alphabet! Ja, das hatte seine Tücken. Gerber konnte es immer noch nicht auswendig: a, bjä, vjä, gjä, e, jä, zjä ... Dompteur gesucht! Zacharias Zündloch meldete sich freiwillig und ging mutig in den Löwenkäfig. Nur seine Knochen blieben übrig. Dompteur gesucht! Wie schreibt man Dompteur in der Transkription? Ingenieur schrieb man inzenär, also mußte, ein Dompteur etwa domptär oder domtär lauten. Karl Napp drehte unterdessen sein Pappschild um: Löwen gesucht! Lev heißt Löwe. Welche Tiernamen kannten sie noch? Vorobiej der Sperling. Ach so, popugai der Papagei. Ein bißchen wenig, alles zusammen.
    Das Lehrbuch wurde immer primitiver. «Die Bauern und Bäuerinnen gehen aus den Hütten zur Arbeit ... Auf dem Wege zurück begegnen wir einem Bauern mit einem Karren... Der Onkel empfängt uns mit Freude an der Tür des Bauernhauses. Mit Hilfe Iwans stellt Jegor die Pferde in den Stall ... » Es war zum Auswachsen!
    Gerber sah ein, daß er ohne Grammatik nicht weiterkam. Im Schwarzhandel trieb er ein Exemplar auf. Es trug den Druckvermerk Dezember 1941. «Die Besetzung des großen russischen Raumes erfordert täglich mehr Menschen ... » Aha, daher wehte der Wind!
    Das einzige Brauchbare an der Grammatik war Paragraph 58: Das Neuwort. Hier standen Vokabeln, die der etwas vertrottelte Lehrer nicht kannte: Pjatiletka der Fünfjahrplan, traktorist der Treckerfahrer, tankist der Panzersoldat, komsomolec der Angehörige des kommunistischen Jugendverbandes. Unvorsichtigerweise benutzte Gerber ein derartiges Wort im Unterrichtsgespräch. Der Petersburger stutzte. «Wo haben Sie das her?» Gerber zeigte seine Grammatik. Da entriß er ihm das Buch, warf es auf den Boden und legte mit einer Schimpfkanonade los, wie Gerber sie seit Rauhs Zeiten nicht mehr erlebt hatte. Die verdammten Bolschewiken seien nicht nur gottlos, sondern auch kulturlos! Sie hätten die russische Sprache verhunzt, in den Schmutz gezogen. Solche Neuwörter wie pjatiletka (wobei der sogenannte Fünfjahrplan natürlich ein großer Schwindel wäre) bedeuteten das Ende der herrlichen russischen Sprache, von der Lomonossow sagte, daß sie ...
    Gerber kannte das. Er drehte erst einmal bei, ließ den Sturm abklingen. Einige Tage später wurde die Debatte fortgesetzt. Neuwörter oder Sprachverhunzung, zeitgemäße Entwicklung des Wortschatzes oder Bewahrung alter Zöpfe, glühender Fortschritt oder eiskalte Reaktion. Harald Kreutzmann verteidigte das Neue geschickt, wie Gerber anerkennend feststellte, und mehrere Lehrgangsteilnehmer traten auf ihre Seite.
    Der Petersburger gab sich geschlagen: Neuwörter waren erlaubt. Aber ihm war anzumerken, daß ihm dieser Entschluß sehr schwerfiel. Auch andere Kursanten liehen sich nun Gerbers Grammatik. Wenigstens ein schwacher Ausgleich für das rückständige Lehrbuch der christlichen Organisation.
    Gerbers Bemühungen wurden von vielen Männern belächelt. Russisch lernen? Das fehlte noch! Sie erteilten Ratschläge, die nicht gerade Wohlwollen verrieten: «Fahr doch nach Sibirlen, da lernst du's viel schneller. In zwei Jahren bist du perfekt.: Wir sehen dich im Geiste schon als Lagerdolmetscher, irgendwo am Baikalsee!»
    Den Spott nahm Gerber gelassen hin. Während die Mehrzahl in den Tag hinein lebte, hatte er keine Gelegenheit versäumt, etwas zu lernen. Auf den verschiedensten Gebieten. Er hatte seine

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