Irrfahrt
war.
Der Trupp marschierte in Richtung Altstadt. Reklameschilder an den Fassaden warben für Bols-Liqueur, Philips-Radio und Singer-Nähmaschinen. Die Straßen wurden immer enger und verwinkelter. Es roch penetrant nach Fisch. In den Haustüren saßen Frauen mit ihrem Strickzeug. Kinder spielten im Rinnstein. Alle waren ärmlich gekleidet. Polizisten traf man hier nicht. Die Altstadt war ein berüchtigtes Viertel. In den Kneipen, deren Front zur Straße offen lag, hockten wenig vertrauenerweckende Gestalten. Heinz Apelt verstand jetzt, warum die Besatzung beisammen geblieben war. Einer allein konnte leicht unter die Räder kommen.
«Wohin gehen wir eigentlich?» fragte er vorsichtig. Heinisch schlug ihm kräftig auf die Schulter. «Jetzt kannst du mal zeigen, ob du ein richtiger Kerl bist!»
Aus einer winzigen Seitenstraße drang Musik: Ohne Zögern lenkte der Decksälteste seine Schritte dorthin. Ein Steuerrad hing über dem Eingang des Hauses. Die Fenster waren dicht verhängt. Mit Mühe war die verwaschene Inschrift «Chez Madeleine» zu entziffern.
Spindler ging voran. Unschlüssig blieb Heinz stehen. Eine Woge von Tabakqualm, Geschrei und Musikfetzen schlug ihm entgegen. Derb wurde er von den anderen durch die Tür geschoben.
Es war eine Spelunke übelster Sorte. Heinz brauchte nur die freizügigen Kleider der Mädchen zu sehen, um zu wissen, wohin man ihn geführt hatte. Am liebsten hätte er sich verdrückt. Aber das war nicht mehr möglich. Heinisch und Frase nahmen ihn in die Mitte. Sie winkten zwei hellblonden Mädchen, die gerade die Treppe herunterkamen.
Gehorsam setzten sich die beiden an den Tisch. Die kleinere faßte Apelt am Hosenbund und schmiegte sich an ihn. «Ich Spezialist für Marine», sagte sie. Dann nahm sie seine Hand und legte sie in ihren Blusenausschnitt.
Heinz wurde rot und blaß. Der Lärm in dem überfüllten Raum, der widerliche Brodem aus Tabakrauch, billigem Parfüm und Achselschweiß benahm ihm fast die Sinne. Hier war alles vertreten: Heer, Luftwaffe, Marine, OT, Feldgendarmerie. Sogar ein paar Männer vom Arbeitsdienst. Eine Sekunde lang dachte er an Eckdorf.
Heinisch stieß ihn an. «Los, gehen wir nach oben!»
Heinz zögerte. Da sagte Frase in seiner ruhigen Art: «Halbseidene Brüder werden bei uns nicht alt, verstehst du?»
Apelt verstand. Wenn er in die Gemeinschaft aufgenommen werden wollte, mußte er mitmachen.
Die Flottille lag nun schon eine Woche in Holland fest, und noch immer war der Bestimmungsort geheim. Einige tippten auf Spanien. Das gab dem Thema eins neue Nahrung. Heiße andalusische Nächte und feurige Tänzerinnen wurden in allen Tonarten besungen. Die meisten BesatzungsmitgIieder waren zwischen Biskaya und Nordkap gefahren. Spanien kannten sie noch nicht.
Andere wiederum waren skeptisch. Sie glaubten, daß die Boote nach einer langen Rundreise wieder in Kiel eintreffen und ihr altes Gesicht annehmen würden.
Als dann «seeklar» befohlen wurde, ging es keineswegs auf das offene Meer hinaus. Ein holländischer Lotse kam an Bord. Unter seiner Leitung schlängelten sich die Boote durch die vielen Inseln des Deltas, vorbei an schmucken Dörfern und unzähligen Windmühlen. Eine idyllische Landschaft ...
Auf dem Fluß herrschte Betrieb. Schlepper mit großen Schornsteinen zogen vier bis sechs Lastkähne hinter sich her. Mühelos überholten die Boote, obwohl sie hier nur mit einem Dieselmotor fahren durften.
Es war schwierig, halbwegs geordnet im Verband zu laufen. Die Boote waren für schnelle Angriffe ausgelegt, nicht für eine langsame Tuckerfahrt. Apelt wurde auf die Brücke gestellt. Heinisch drückte ihm eine gestreifte Fahne in die Hand. Der vordere Ausguck rief: «Abstand vermindert sich!» Also mußte die Geschwindigkeit heruntergesetzt werden. Harms gab die Befehle dazu. Auf der Brücke wurde mit der Fahne gewedelt, bis das Boot achteraus ebenfalls Fahrtverminderung anzeigte. Bald vergrößerte sich der Abstand wieder. Und so ging es viele Stunden in eintönigem Wechsel. «Ich möchte nur mal wissen, warum die Kähne Schnellboote heißen», stöhnte der Maschinist.
Abends waren sie in Emmerich, also wieder in Deutschland. Der Fluß, den sie aufwärts fuhren, war Vater Rhein. Da sie von Fliegerangriffen verschont blieben, herrschte eine zufriedene Stimmung.
Am nächsten Morgen kam ein anderer Lotse an Bord. Er stammte aus Rüdesheim. Im Frieden hatte er als Kapitän eines Vergnügungsdampfers erlebnishungrige Touristen für sechs Mark
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