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Irrfahrt

Irrfahrt

Titel: Irrfahrt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerhard Grümmer
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pro Tag nach Koblenz und wieder zurück befördert. Zu seinen Obliegenheiten gehörte es, über Sehenswürdigkeiten rechts und links des Rheinufers erschöpfend Auskunf t zu geben. Das tat er mit einer guten Portion Mutterwitz.
    Von Emmerich ging es weiter stromaufwärts. Über Wesel, Duisburg und Düsseldorf kannte der alte Käptn saftige Geschichten, die er früher nur auf Fahrten ohne Beteiligung von Damen erzählt hatte. Vom Kölner Dom wußte er so viel, daß die Boote schon in Bonn angelangt waren, als sein Vorrat endlich zur Neige ging. Dann kam er auf einen bösen Drachen zu sprechen, der seit alters her im Siebengebirge sein Unwesen treiben sollte.
    In Koblenz begann der Lieblingstörn des Kapitäns. Kein Schloß, keine Burg ließ er passieren, ohne daß irgendeine Geschichte fällig war. «Auf diesem schönen Schloß, meine Damen und Herren, mußte Kasimir der Vierunddreißigste im Jahre 1803 abdanken und seine Souveränität an den Nagel hängen.» Die Pfalz bei Kaub, der Mäuseturm von Bingen und eine monumentale Germania mit Stahlplatten über dem bemoosten Busen lieferten neuen Stoff.
    An den steilen Ufern zogen sich Weinberge hin. Mancher, der von der Küste stammte, sah Weinberge zum erstenmal. «Übermorgen sind wir in den Alpen und werden zur berittenen Gebirgsmarine überstellt», meinte Frase. Die Stimmung wurde immer ausgelassener, je weiter sie sich vom Meer entfernten. Alle, mit Ausnahme des Kommandanten, empfanden die Fahrt als einen erholsamen Ausflug, der mit dem Krieg wenig zu tun hatte.
    Auf der Stirn von Leutnant Harms bildeten sich Falten. Der Fluß war südlich des Mains nicht mehr so breit und stellenweise ziemlich flach. Zwar waren die Sandbänke markiert, aber die Fahrrinne wurde nicht mehr so gepflegt wie in Friedenszeiten. Ständig mußte gelotet werden. «Drei Faden Wassertiefe», rief Spindler, und wenig später: «Zweieinhalb Faden!» Wenn das so weiterging, würden sie bald auf Grund sitzen.
    Die Sonne stand schon tief am Himmel, als die Flottille aus dem Strombett in einen Kanal bog. Nach wenigen Kilometern hatten sie einen großen, unübersichtlichen Flußhafen erreicht. Auf den Gleisen an der Pier standen Kesselwagen. Die Boote sollten Dieseltreibstoff übernehmen.
    «Wo sind wir überhaupt?» fragte Heinz Apelt beim Abendessen.
    «Straßburg», sagte Heinisch.
    Apelt erinnerte sich an seine Schulzeit: Zu Straßburg auf der Schanz, Goethes Jugend ... Der hohe spitze Turm, den er beim Einlaufen gesehen hatte, war sicherlich das berühmte Münster. Er hätte das Bauwerk gern besichtigt, aber keiner durfte an Land.
    Die Fahrt ging weiter in südlicher Richtung. Ein schnurgerades Kanalbett durchschnitt die Landschaft. Moderne Schleusen, die in kurzer Zeit passiert wurden. Heinisch hatte auf der Brücke ein Handbuch für die Rheinschiffahrt entdeckt und ins Logis mitgebracht. Nur wenige hörten zu, als er die Daten vorlas: «Rheinseitenkanal, von Frankreich gemäß Artikel 358 des Versailler Vertrages als Reparationsleistung gefordert. Geplante Länge: 117 Kilometer ... Von deutschen Firmen in den zwanziger Jahren begonnen ... 1932 Eröffnung des ersten Abschnitts mit dem Großkraftwerk Kembs ... »
    Die Menschen an den Schleusen sprachen fast alle Deutsch, wenn auch mit einem eigentümlichen Akzent. Elsaß. Zankapfel zwischen Deutschland und Frankreich, hatte Dr. Gall gesagt. Oder war es Kuhle gewesen?
    Im weiteren Verlauf der Fahrt wurden die Abstände zwischen den Schleusen geringer. Nur wenige Kilometer kamen sie vorwärts, dann war schon die nächste Schleuse in Sicht. Immer tiefer fraß sich die schmale Wasserstraße in das Hügelland hinein. Ein kahler Gebirgszug ragte vor ihnen auf. Ob das die Alpen wären, wollte einer wissen. Heinisch forschte nach: Schweizer Jura. Dann erreichten sie Mömpelgard. Heinisch behauptete, sie befänden sich jetzt dreihundertsiebzehn Meter über dem Meeresspiegel. «Und wat solln wir hier?» fragte Spindler.
    Auf diese berechtigte Frage konnte niemand Auskunf geben. Auch Harms nicht. Offenbar wußte nur der Flottillenchef, was es mit der merkwürdigen Flußfahrt auf sich hatte. «Wir sollen wohl die Schweiz mit unseren Schnellbooten erobern», witzelte Frase. Die Schweiz war neutral. Aber das konnte über Nacht anders sein. Neutralität und Nichtangriffspakte galten in diesem Krieg nicht viel.
     
    Den Rheinseitenkanal hatten sie längst verlassen. Sie krochen irgendeinen Zweigkanal entlang, dessen technische Anlagen aus dem neunzehnten

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