Irrfahrt
Jahrhundert stammten. Die Schleusen waren aus Holz, ihre Tore mußten mühsam von Hand bewegt werden. Flußschlepper verkehrten hier in Mengen. Die getarnten Schnellboote fielen in dem Gewühl nicht auf. Allerdings wunderte sich mancher Schiffer, warum aus den Schornsteinen kein Rauch aufstieg.
Der Kanal überquerte Bäche und mitunter sogar größere Flüsse. Staunend blickten die Männer über die Reling auf Gewässer, die tief unter ihnen lagen. Saubere Dörfer und kleine Städte kamen ins Gesichtsfeld. Nach dem vielen Meerwasser, das die Besatzung bisher gesehen hatte, war das entschieden etwas Neues.
Im Hochsommer stand nur wenig Wasser fm Kanalbett. Viele Schiffe lagen fest oder mußten ableichtern, um die Reise fortsetzen zu können. An gefährlichen Stellen hielten Deckleute die Schnellboote mit Bootshaken in der Mitte des Fahrwassers.
Die veralteten Schleusen machten jeden Durchlauf zu einem Problem. Von Hand wurden die Boote in die Kammer gezogen; nur zwei paßtert gleichzeitig hinein. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis die Flottille durchgeschleust war.
Dann wurde die Wasserstraße unregelmäßig. Die Männer hatten zeitweise den Eindruck, in einem richtigen Flußbett zu sein. Manchmal war auch eine Schleife durch einen Kanal abgekürzt. «Wir sind im Doubs», verkündete Heinisch mit wichtiger Miene. Der Doubs war ein französischer Fluß, und der Kanal, den sie entlangfuhren, war der Rhein-Rhone-Kanal.
Immerhin ging es nun bergab. Die Boote liefen besonders langsam; sie hatten nur einige Dezimeter Wasser unter dem Kiel. Die geringste Unebenheit konnte zum Verhängnis werden, denn der Grund bestand aus Felsen.
Die nächste Stadt war Chalon sur Saone. Wassertiefe: ein Meter. An dieser Barre lagen sie endgültig fest. Die einzige Hoffnung war ein Landregen, der die Speicherbecken wieder füllte. Doch am Himmel zeigte sich kein Wölkchen.
«Wir haben hundertsiebenundfünfzig Schleusen hinter uns gebracht», sagte Heinisch, «da werden wir diese Untiefe auch noch schaffen.»
Spindler streckte sich auf Deck aus und bot seinen dürren Körper der Sonne dar. «Geht alles vom Krieg ab», sagte er. Damit sprach er das aus, was andere dachten.
Die fröhliche Stimmung, die an Bord herrschte, wurde von Leutnant Harms keineswegs geteilt. Je langsamer es vorwärts ging, desto finsterer wurde sein Gesicht. Als die Flottille in Chalon festlag, sank bei ihm das Barometer auf Null. Das vergammelte Boot mit seiner zivilen und fast immer angetrunkenen Besatzung fiel ihm auf die Nerven. Harms war gerade Kommandant geworden, er wollte sich bei gewagten Einsätzen auszeichnen. Die ganze Fahrt war für ihn verlorene Zeit.
1,20 Meter Wassertiefe waren erforderlich, um die Felsenbarre zu passieren. Jeden Morgen erhielt Heinisch den Befehl, am Pegel den Wasserstand abzulesen. Tagelang bewegten sich die Werte zwischen 1,00 und 1,10 Meter, was die Besatzung mit Befriedigung zur Kenntnis nahm.
Dann stieg das Wasser auf 1,12 Meter. Harms lebte auf. Zwei Tage später waren es sogar 1,15 Meter. «Eine Katastrophe», sagte Frase. Harms hingegen ließ die Maschinen warm laufen, um bei einem weiteren Ansteigen sofort lospreschen zu können. Der Flottillenchef beorderte ihn zu sich und verbat sich diesen Unfug.
Als der Pegel wieder 1,12 Meter anzeigte, war Harms nahe daran, den Verstand zu verlieren. Wie zum Hohn rollte die Besatzung ein großes Faß Wein an und markierte dabei auch noch so eine Art «Seite». Der günstige Pegelstand mußte begossen werden. Nach einer Stunde waren alle Mann volltrunken, mit Ausnahme des Kommandanten.
Offiziell war kein Landgang angesetzt, aber es gab doch ab und zu eine Möglichkeit, das Boot für einige Stunden zu verlassen. Beschaffung von Proviant, Haarschneiden oder kleine Einkäufe dienten als Begründung. Lokale durften nicht aufgesucht werden; näherer Kontakt mit den Franzosen war streng untersagt. Die Männer bedauerten das. Sie hätten sich hier gerne so bewegt wie in Holland.
Scharen von Schiffern, die mit ihren Fahrzeugen ebenfalls festlagen, bevölkerten die Straßen der Stadt. Die Schnellbootbesatzungen waren in ihrer Zivilkleidung kaum von den französischen Schiffern zu unterscheiden.
Drei Wochen lagen sie schon in Chalon, als es zu regnen begann. Das Wasser stieg unaufhörlich. Alle wußten, was diese Veränderung der Wetterlage bedeutete. Das Stimmungsbarometer schlug um: Harms wurde immer vergnügter, die Besatzung immer trübsinniger.
Die Fahrt konnte
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