Irrflug
Turm runterkommen – und räumen Sie auch die Kirche.” Häberle sprach jetzt immer schneller, während er sich einem Fenster zuwandte, von dem aus die Spitze des Münsters zu sehen war, „und verständigen Sie den Oberbürgermeister. Das Rote Kreuz soll sich bereithalten. Feuerwehr, Technisches Hilfswerk.”
Die Kriminalisten waren sichtlich erleichtert, dass eine Entscheidung getroffen worden war, die zumindest nach außen eine Reaktion erkennen lassen würde. Die meisten verließen den Lehrsaal, um aus ihren jeweiligen Positionen heraus die nun notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Dass dies schnell ging, war nach wenigen Minuten festzustellen. Martinshörner erfüllten die Luft.
Ein halbes Dutzend Streifenwagen, die Feuerwehr mit zwei Tanklöschfahrzeugen und mehreren Gerätewagen sowie das Technische Hilfswerk mit mehreren schweren Lastwagen belagerten aus allen Richtungen den Rand des Münsterplatzes, blieben jedoch soweit vom Turm entfernt, dass sie ein abstürzendes Flugzeug nicht in Gefahr bringen konnte.
Schlagartig hatten sich die Passanten-Ströme rings ums Münster geändert. Wie von einem unsichtbaren Magneten angezogen, wuselten die Menschen aus den umliegenden Straßen und Gassen heraus, um das Geschehen verfolgen zu können. Hatte sie schon der Phantom-Jäger beunruhigt, der viele Male im Tiefflug über die Stadt geflogen war, so machten jetzt nach dem Eintreffen so vieler Einsatzfahrzeuge wilde Gerüchte die Runde. In den Obergeschossen der umliegenden Gebäude wurden Fenster geöffnet, drängelten sich Neugierige um den besten Aussichtsplatz.
Vor den Cafés genossen die Gäste, die dort unter Sonnenschirmen saßen, den freien Blick auf den vor ihnen liegenden Münsterplatz. Andere eilten aus den Lokalen, aus den Geschäften und aus den Büros. Ganze Menschentrauben versammelten sich vor dem großen Haushaltswarengeschäft an der Ecke zur Platzgasse, aus der ebenfalls immer mehr Schaulustige kamen. Polizeibeamte begannen, rot-weiße Absperrbänder zu ziehen, um den Münsterplatz weiträumig abzusperren.
Ein Streifenwagen rollte rückwärts bis zur Mitte des Münsterplatzes und hatte Mühe, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Uniformierte schwärmten nach allen Seiten aus, in Geschäfte, ins Münster, in die Lokale. „Achtung, Achtung”, schallte eine Männerstimme durch den Lautsprecher eines Streifenwagens, „hier spricht die Polizei. Auf Grund einer bedrohlichen Situation durch ein Sportflugzeug werden alle Personen aufgefordert, den Münsterplatz und die umliegenden Häuser zu verlassen und sich in der Fußgängerzone Hirschstraße, in der Platzgasse und in der Hafengasse vorübergehend in Sicherheit zu bringen.” Ein Raunen ging durch die Menschenmenge, Schreie des Entsetzens hallten in den engen Gassen von den Häuserwänden wider. Die ersten Personen begannen zu rennen, schubsten, drängelten, wurden schneller, nahmen keine Rücksicht auf Gebrechliche. Wie einem Sog schlossen sich immer mehr Menschen den Flüchtenden an.
Der Polizist am Lautsprecher bat die Menschen, Ruhe zu bewahren. Vergeblich. Die Schreie wurden lauter, der geordnete Abzug sah eher nach einer panischen Flucht aus. Der Polizist wiederholte noch einmal mit beruhigend-sonorer Stimme seine Aufforderung, Häuser und Münsterplatz zu verlassen. Dann fuhr der Streifenwagen zum schneeweißen Stadthaus hinüber, das vor einigen Jahren an markanter Stelle vor dem Münster erbaut worden war. Erneut erschallte die Warnmeldung. Während die Durchsage noch mehrfach wiederholt wurde, bog der Streifenwagen in einen neu gestalteten Fußgängerbereich ein, der sich parallel zur südlichen Münsterseite befand. Der Beamte am Steuer musste davoneilenden Passanten ausweichen. Er erreichte im Schritt-Tempo das Hafenbad, jene hinterm Münster quer vorbeiführende Straße. Dort bog der Streifenwagen, während die Lautsprecher-Durchsage ständig wiederholt wurde, nach links ab, um auf diese Weise das Kirchenschiff zu umrunden. Vor einem großen Radio- und Fernsehgeschäft ging’s erneut nach links. Am Eck befand sich ein Café, dessen Gartenstühle bereits verlassen waren. Einige Gäste standen diskutierend auf dem Gehweg, die meisten strömten in die Hafengasse hinüber.
Inzwischen bewegten sich die Menschenmassen rund ums Münster auf die abzweigenden Seitenstraßen und Gassen zu. Als in diesem Moment das Sportflugzeug über dem Münster auftauchte, ging erneut ein vielstimmiger Entsetzensschrei durch die Menge, Panik schien
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