Irrflug
Eislingen hinter sich gelassen hatte. Im Rückspiegel sah er die bedrohlich finstre Wolkenwand immer näher kommen. Der Wind hatte nun deutlich zugenommen.
Als sie vor Rottlers Haus ins Auto gestiegen waren, hatten sie telefonisch versucht, die anderen Flieger zu erreichen, die sie noch aufsuchen wollten. Doch nur ein einziger war zu Hause gewesen – Jens Hilgenrainer in Süßen. Sie hatten ihm gesagt, dass sie in einer Viertelstunde bei ihm sein würden. Reine Routine. Er wohnte in dem Neubaugebiet rechts der B 10. Häberle fand die Adresse auf Anhieb und parkte entlang der Vorgärten.
Die Luft roch irgendwie nach Wasser – als habe es in einiger Entfernung bereits geregnet. Immer wieder grollte weit am Horizont ein Donner. Die Sonne war zwar von der aufziehenden Gewitterfront verdeckt, doch die Schwüle lag noch immer überm Land.
Die beiden Kriminalisten hatten den kleinen Vorgarten des Reihenhäuschens schnell durchschritten. Häberle drückte den Klingelknopf und Augenblicke später wurde die Tür geöffnet. Offenbar hatte Jens Hilgenrainer, ein Mann mittleren Alters, dessen dünnes, rot-blondes Haar ziemlich zersaust war, bereits gespannt auf die angekündigten Besucher gewartet. Er trug ein kurzärmliges Jeanshemd und schlapprige Shorts, die dünne, behaarte Beine freigaben. Die Füße steckten in völlig ausgelatschten Sandalen. Hilgenrainer verengte die Augenbrauen. „Sie haben angerufen?”, fragte er vorsichtig. Seine Stimme verriet Nervosität.
Häberle lächelte, wie er dies immer tat, wenn er die Atmosphäre zu entspannen versuchte. „Haben wir”, sagte er und stellte sich und seinen Kollegen vor. Jetzt zerrte eine kräftige Böe an ihren Haaren.
Hilgenrainer bat die Besucher herein. Im Innern des Reihenhäuschens war noch einiges im Rohbau-Zustand: An einer Wand im engen Treppenhaus fehlte der Verputz, im Wohnungsflur ragten dort, wo vermutlich die Deckenlampe hätte montiert werden sollen, die Drähte heraus.
„Entschuldigen Sie”, sagte Hilgenrainer und ging voraus in ein Wohnzimmer, „aber ich bin erst vor kurzem eingezogen. Manches ist noch nicht fertig.” Er wies auf eine hellblaue Sitzgruppe und bat die Gäste, Platz zu nehmen. Die übrige Einrichtung bestand aus einfachen Möbeln. Ein riesiger Fernsehapparat nahm einen Großteil der Kiefern-Schrankwand ein. Auf den Regalen lagen und standen Unmengen von Büchern, dazwischen CDs und Video-Kassetten.
„Als Junggeselle nimmt man’s nicht so genau”, fuhr der Mann fort. Er setzte sich in einen Sessel an der Oberkante des kleinen Couchtisches und schlug die Beine übereinander.
„Ich kann mir denken, weshalb Sie kommen”, machte er weiter und schien wieder Selbstvertrauen gefasst zu haben, „die Sache von der Hahnweide.”
Häberle nickte und verschränkte die Arme. „So ist es. Wir haben uns sagen lassen, dass auch Sie dort fliegen.”
Der Angesprochene nickte lächelnd. „Schon seit Jahr und Tag. Und jetzt wollen Sie sicher wissen, ob ich weiß, wer die Frau umgebracht hat?”
„Nicht ganz”, erwiderte Häberle, „das wäre erst der zweite Schritt. Momentan interessiert uns viel mehr, wer diese Frau ist.”
„Ach”, machte Hilgenrainer und kam mit dem Oberkörper nach vorne, während die Donnerschläge jetzt lauter wurden, „Sie wissen noch immer nicht, wer diese Frau ist?”
„Wissen Sie’s denn?”, fuhr Linkohr dazwischen. Der Andere war für einen kurzen Moment perplex. „Ich? Wieso sollte ich?”
„Na ja, es könnte doch zumindest sein, dass Sie auf der Hahnweide gelegentlich jemand treffen, mit jemandem reden, kennen lernen, flirten …”, sagte Häberle und lächelte wieder.
„Wissen Sie, ich bin eher ein Schönwetter-Flieger. Ich geh’ rüber, wenn die Sicht super ist, von Horizont zu Horizont, und mach’ ein Sightseeing-Flügle”, erklärte Hilgenrainer und schaute Häberle fest in die Augen.
„Fliegen ist ein teurer Sport”, erwiderte dieser.
„Das ist ein weit verbreitetes Vorurteil. Auch, dass es nur etwas für Großkopfete sei”, erklärte Hilgenrainer und versuchte erneut, sein zersaustes Haar zu glätten, „dabei ist Fliegen ein Hobby, wie jedes andere. Nur viel interessanter und verantwortungsvoller, verstehen Sie? Man braucht all’ seine Sinne dazu und muss sich penibel genau an die Anweisungen und Vorschriften halten. Natürlich gibt’s Piloten, bei denen Geld keine Rolle spielt. Aber seien Sie ehrlich: In jeder Sportart hat’s welche, die unbedingt zeigen müssen, was sie
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