Irrflug
Tannenschonung, bis sich ein weites, sanftes Wiesental auftat. Rottler nahm dort den linken Weg und steuerte auf das Waldcafé zu. Einige wenige Autos parkten davor, keines jedoch, das er kannte, stellte Rottler zufrieden fest.
Der Wind schien sich jetzt zu einem Sturm zu entwickeln. Das Donnergrollen, das bereits seit geraumer Zeit von der Ferne zu hören war, schwoll an.
Das Paar ging eilig zur Eingangstür des Lokals, dessen Einrichtung eine gepflegt-rustikale, vor allem gediegene Atmosphäre verbreitete. Kaum die Hälfte der Plätze war belegt. Rottler musterte die Gäste, wie er das immer tat, wenn es ihm unangenehm gewesen wäre, auf Bekannte zu stoßen. Draußen auf der Terrasse schien nur noch ein einziger Tisch frei zu sein, stellte er bei einem flüchtigen Blick durch die Fenster fest. Ein Lächeln und ein Blickkontakt genügten und er erkannte, dass seine Begleiterin ebenfalls gerne ins Freie sitzen würde. Rottler ging voraus, die Frau hinterher – von den Blicken der männlichen Gäste verfolgt.
Die beiden setzten sich an den freien Tisch und genossen für einen Augenblick schweigend die herrliche Sicht ins Filstal und zur Schwäbischen Alb, die weit in der Ferne aufragte.
Sie bestellten zwei Viertele Rotwein und prosteten sich zu.
„Wenn du heut’ geflogen wärst, wärst du womöglich noch in die Gewitterfront geraten”, meinte die Frau mit gedämpfter Stimme.
„Ich wär’ längst wieder zurück. Das hätt’ gereicht, keine Sorge”, sagte er und griff nach ihren Händen, die sie auf der Tischplatte liegen hatte.
„Manchmal hab’ ich richtig Angst, wenn du unterwegs bist”, erwiderte sie und holte tief Luft, „denn ohne dich könnt’ ich mir das Leben nicht mehr vorstellen.”
Rottler lächelte. „Ich doch auch nicht, Melanie.”
Dass sie ausgerechnet jetzt das Gespräch auf das Verbrechen von der Hahnweide brachte und mehr davon wissen wollte, fand er allerdings reichlich unpassend. Er schilderte deshalb nur mit knappen Worten, was er gesehen und gehört hatte und dass bereits zwei Kriminalisten bei ihm gewesen seien.
„Wieso kommen die denn ausgerechnet zu dir?”, staunte sie.
„Weil sie offenbar absolut im Dunkeln tappen und auf jeden Hinweis angewiesen sind.”
„Ist das nicht schrecklich? Da läuft also einer frei rum, der eine Frau getötet hat?”
Rottler kniff die Lippen zusammen und machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Wahrscheinlich eine Beziehungstat. Eifersucht, Hass, Enttäuschung”, sagte er schließlich, „man kennt das ja …”
„Ja, man kennt das …”, wiederholte sie mit deutlicher Resignation in der Stimme, um langsam hinzuzufügen, „zur Genüge, ja.”
„Du denkst an uns?”, fragte Rottler und streichelte ihr über die Hände.
Sie nickte. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gern ich mit dir zusammen wäre. Für immer.” Sie stockte. „Diese Geheimnistuerei nagt an den Nerven.”
Er nickte verständnisvoll. Oft schon hatten sie darüber gesprochen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. In letzter Zeit war er dem Thema jedoch immer häufiger ausgewichen. Das musste auch sie gespürt haben.
„Weißt du, dass das nächsten Monat nun schon drei Jahre geht?” Sie versuchte zu lächeln.
„Weiß ich, Schatz. Mir ist es, als wär’ es erst gestern gewesen.” Er nahm einen Schluck Wein und ließ seine Blicke zu den ausgedehnten Wiesen wandern. Ein Donner grollte. Der Himmel verfinsterte sich jetzt zusehends.
„Manchmal wundere ich mich, dass Frederik nie etwas gemerkt hat.” Die Frau wurde wieder ernst.
„Der kennt nur eines: Seine Firma. Dafür lebt er, dafür hat er Zeit”, stellte Rottler fest.
„Er hat sie ja auch mit eisernem Willen aufgebaut”, sie stockte kurz, um dann fortzufahren: „Und mit fähigen Leuten wie dir.” Rottler fühlte sich geschmeichelt.
Er hörte dies gern. „Stell’ dir vor, das Ding würde uns gehören. Ich der Chef und du an meiner Seite …”
Sie schwieg, während er noch immer ihre Hände hielt.
„Hin und wieder”, so fuhr sie schließlich fort, „hin und wieder hab’ ich in letzter Zeit den Eindruck, als ob auch du dich mehr zur Firma hingezogen fühlst als zu mir.”
Als sie es gesagt hatte, tat ihr dies bereits wieder leid.
Er lächelte und hielt ihre Hände noch fester. „Aber Schatz, wo denkst du denn hin? Ich bin mit Arbeit voll bis über die Ohren. Ich kann nicht einfach zu jeder Tageszeit davonlaufen. Du weißt doch”, seine Stimme wurde sanfter, „wir haben seit Wochen
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