Irrflug
verwundert. Häberle deutete ihm an, still zu sein. Sie blieben regungslos vor der Haustür stehen und beobachteten die Umgebung. Linkohr ging ein paar Schritte zurück und blickte an der Hausfront hinauf. Kein Licht. Keine Bewegung an den Vorhängen, soweit er dies erkennen konnte. Die Kriminalisten blieben nahezu eine Minute stehen, bis Häberle flüsternd und mit einer Handbewegung andeutete, was er vorhatte: „Wir geh’n mal rum.”
Der Chef-Kriminalist ging, gefolgt von Linkohr, zur linken Hausecke, wohin ein völlig deformierter Plattenweg führte. An der Giebelseite maß der mit Stauden bewachsene Vorgarten bis zum Zaun des Nachbargrundstücks etwa vier Meter. Der Plattenweg führte auch dort direkt am Gebäude entlang. Nach einigen Schritten blieb Häberle stehen, um am Gebäude hochzublicken. Nichts. Im Streulicht der Straßenlampe, die sich in einiger Nähe zum Haus befand, erkannte er, dass das Grundstück im hinteren Bereich steil zum Waldrand hin anstieg und einen ziemlich verwilderten Eindruck machte. Er bedauerte es, keine Taschenlampe dabei zu haben. Gleichzeitig wurde ihm bewusst, dass sie beide nicht einmal eine Waffe mitgenommen hatten. In einer derartigen Situation hatte sich Häberle schon häufiger befunden. Er verließ sich meist auf seine bärenstarken Kräfte. Andererseits jedoch gab es brenzlige Momente, in denen eine Schusswaffe durchaus hilfreich, wenn nicht gar lebenswichtig sein konnte. Wie vielleicht jetzt.
Sie lauschten in die Nacht. In der Ferne heulte ein Käuzchen, auf der Hochfläche rauschte der Wind im Blätterwerk der Bäume. „Verstärkung?”, flüsterte Linkohr. Er hatte vorsorglich das Handy mitgenommen.
Häberle deutete ihm mit einer Handbewegung an, sich absolut still zu verhalten. Ihm schien so, als habe er wieder etwas gehört. Hastige Schritte im Laub. Das Geräusch kam von der Rückseite des Gebäudes.
Sie schlichen sich langsam vorwärts zur nächsten Haus-ecke. Häberle ging auf Zehenspitzen, Linkohr folgte. Wieder war das Käuzchen zu hören, ganz in der Ferne sogar noch ein Donner des längst abgezogenen Gewitters. Wieder die Schritte. Jemand flüchtete in Richtung Wald. Das Geräusch war so laut und heftig, dass es nicht mehr von dem abgeflauten Wind herrühren konnte. Häberle huschte um die Ecke zur Gebäuderückseite und blickte vorsichtig in den ansteigenden Garten, der sich auf der ganzen Breite offenbar zum finstren Waldrand hinaufzog. Die Hecken und Stauden, nur als pechschwarze Gebilde zu erkennen, hoben sich mit wenig Kontrast von der Wiese ab. Häberle kniff die Augen zusammen und versuchte, am Waldrand, der etwa fünfzehn Meter entfernt sein mochte, etwas zu erkennen. Unmöglich. Die Schritte wurden leiser. Irgendjemand entfernte sich hangaufwärts.
Der Kommissar entschied, das Versteckspiel aufzugeben. „Ist hier jemand?”, schrie er mit sonorer Stimme, wie sie nur sein gewaltiger Brustumfang zustande bringen konnte, in die Nacht hinaus. Linkohr war seinem Chef gefolgt. Sie befanden sich jetzt im stockfinstren Schatten, den das Haus im Schein der Straßenlampe nach hinten warf. „Da haut einer ab”, stellte Häberle mit gedämpfter Stimme fest. Er spürte, wie die Anspannung von ihm abfiel.
„Da haut’s dir’s Blech weg”, meinte Linkohr, „wir haben wohl jemanden gestört, der nicht erkannt werden will.”
„Sieht ganz danach aus. Rufen Sie die Kollegen, die sollen ein paar Streifen rausschicken. Da oben verläuft die Straße, die nach Weilheim und Richtung Kirchheim rüberführt.”
Immer noch staunend drückte Linkohr einige Tasten an seinem Handy und hatte Sekunden später einen Kollegen der Sonderkommission an der Strippe. Er schilderte ihm die Situation, während im Nachbarhaus hinter einem Fenster im Erdgeschoss Licht anging.
Linkohr wandte sich an Häberle: „Die Kollegen wollen wissen, ob sie eine Fahndung einleiten sollen.”
Der Chef-Kriminalist zögerte einen Augenblick. „Nach wem denn? Wir haben doch keine Ahnung, nach wem wir fahnden müssen.”
Linkohr gab dies so weiter, lauschte ins Handy und fragte abermals: „Und der Hubschrauber mit Wärmebildkamera?”
Der Kommissar erinnerte sich, dass seit kurzem die Hubschrauberstaffel des Landes Baden-Württemberg mit modernster Technik ausgerüstet und somit rund um die Uhr einsatzbereit war. „Okay”, sagte er, „lassen Sie die Jungs anfliegen.” Insgeheim befürchtete er jedoch, dass nur eine geringe Erfolgschance bestand. Der Kerl, der da im Wald
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