Irrliebe
Bleibe gefunden, die ihnen das Gefühl vermittelte, wirklich ein Zuhause gefunden zu haben. Marie arbeitete seit den Sommerferien als Lehrerin für die Sekundarstufen I und II im Fach Deutsch; Stephan hatte nach seinem Ausscheiden aus der Rechtsanwaltssozietät Dr. Hübenthal in dem noblen Kanzleigebäude in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße, in dem er selbst geschäftsführender Partner gewesen war, ein Büro angemietet. Hier arbeitete er als Einzelanwalt nun in Konkurrenz zu der ohne ihn fortbestehenden Sozietät und versuchte, im eng gewordenen Anwaltsmarkt seinen Platz zu behaupten. Marie hatte nach der zermürbenden einjährigen Arbeitslosigkeit mit umso größerem Ehrgeiz ihre Tätigkeit an der Schule begonnen. Doch die ersten Monate, in denen Marie und Stephan gemeinsam ihren jeweiligen Berufen nachgingen, offenbarten erste unheilvolle Rituale in ihrem Zusammenleben, indem Marie bis in die späten Abendstunden Unterrichtsstunden vorbereitete und Stephan sich in Akten vertiefte, die am nächsten Tag zur Bearbeitung anstanden. Ihr Leben war schnell von Abläufen bestimmt, die die tägliche Zeit einteilten und ihrem Zusammensein die Frische und Spontanität zu nehmen schien, in der sie sich erlebt hatten, als Marie noch Studentin war und ihre einfach eingerichtete Wohnung in einem Altbau in der Brunnenstraße bewohnte. Trotz oder wegen des chaosartigen Durcheinanders, das in der früheren Wohnung herrschte, waren die Räume mit ihren hohen Decken und den alten Flügelfenstern, die zum verwilderten Innenhof hinausgingen, stets eine Welt heimeliger Vertrautheit gewesen, in der Stephan und Marie sich vor der nüchternen Alltäglichkeit verbergen konnten. Sie hatten zu wenig überlegt, wie sie wirklich leben wollten, als sie die Wohnung in Asseln angemietet hatten. Die neue Wohnung war funktional eingerichtet; Maries alte Holzregale wirkten in den geräumigen, gerade geschnittenen Zimmern wie verlorene und fremd bleibende Requisiten. Stephan verstand einerseits Marie und fühlte sich andererseits gereizt.
»Du brauchst nicht einen Fall Franziska Bellgardt, um deinem Leben eine Abwechslung zu geben, die du im Moment nicht anders zu erreichen scheinst.«
Kaum, dass er diese Worte ausgesprochen hatte, spürte er, zu weit gegangen zu sein und Marie für etwas verantwortlich zu machen, wofür er in gleicher Weise einzustehen hatte.
Marie schwieg und blieb spät abends an ihrem Schreibtisch im gemeinsamen Arbeitszimmer sitzen, als Stephan seine Akten schloss und zu Bett ging. Auf Maries Schreibtisch lagen aufgeschlagene Klassenarbeitshefte, aber er sah, dass sie im Internet nach Dominique Rühl-Brossard forschte.
6
Als Stephan gegen zwei Uhr nachts aufwachte und zaghaft suchend seine rechte Hand nach Marie ausstreckte, griff er ins Leere. Ihre Bettdecke lag sorgfältig gefaltet und unbenutzt da. Unruhig stand er auf, taumelte verschlafen ins Arbeitszimmer und sah Marie noch immer vor ihrem Computer sitzen.
»Und?«, fragte er weich, stellte sich hinter sie und umarmte sie versöhnlich, doch sie blieb regungslos. Er massierte schuldbewusst ihre Schultern und ließ entmutigt die Hände sinken.
»Ich werde am kommenden Wochenende nach Paris fahren«, sagte sie nach einer Weile und wandte sich zu ihm um. Stephan sah, dass sie geweint hatte.
»Warum?«, fragte er und zitterte. »Was willst du in Paris?«
»Ich werde Frau Rühl-Brossard besuchen. Sie lebt dort in einem Außenbezirk. Jedenfalls zeitweise. Im Grunde lebt sie hier und in Paris. Abwechselnd an beiden Orten. Ihr Mann Pierre ist Franzose. Sie ist Architektin, er war kaufmännischer Leiter in einem deutschen Baukonzern. Beide haben sich vor Jahren zufällig hier kennengelernt, geheiratet und hier gewohnt. Vor etwa zwei Jahren hat man dem Mann gekündigt. Er hat eine erhebliche Abfindungssumme aushandeln können und hat sich davon und wahrscheinlich auch von Ersparnissen eine Eigentumswohnung in einem Pariser Vorort gekauft. Er stammt gebürtig von dort. Er hat seither nicht mehr gearbeitet und wohl auch keine Arbeit mehr gesucht.«
»Aber das hast du nicht im Internet gefunden?«, erkundigte sich Stephan sanft. Er versuchte, sich Marie über die Sache zu nähern, die gestern Abend nur der Anlass gewesen war, sich eines Grabens bewusst zu werden, der zwischen beiden aufzureißen drohte.
»Ich habe mit Frau Rühl-Brossard heute Nacht telefoniert. Über eine Stunde lang. Ihr Mann ist verschwunden. Seit letztem Samstag, also einen Tag nach Franziskas
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