Irrsinn
Zimmern und einer Veranda mit schönem Ausblick, sei in den dreißiger Jahren zusammeng e zimmert worden und falle seither allmählich auseinander.
Vor langer Zeit hatten unbekannte Naturliebhaber die Hütte zum Angelurlaub genutzt. Elektrischen Strom gab es nicht. Als Toilette diente ein Plumpsklo. Fließendes Wasser gab es nur im Fluss.
»Ich glaube, für die Burschen damals war es in erster Linie ein Ort, wo sie Ruhe vor ihren Weibern hatten«, sagte Cottle.
»Ein Ort, um sich zu betrinken. Na ja, das ist es immer noch.«
Ein offener Kamin sorgte für Wärme und diente als primitive Kochstelle. Seine Mahlzeiten verzehrte Cottle in Form aufg e wärmter Dosen.
Früher war das Grundstück in Privatbesitz gewesen, nun gehörte es dem County. Vielleicht hatte man es wegen Steue r schulden einkassiert. Wie in vielen solchen Fällen kümmerte sich kaum jemand darum. Kein einziger Bürokrat oder Wildh ü ter hatte Ralph Cottle behelligt, seit er die Hütte vor elf Jahren gereinigt hatte, um seine Matratze auszurollen und sich als Hausbesetzer niederzulassen.
Weder in Blick- noch in Rufweite wohnten irgendwelche Nachbarn. Die Hütte war abgelegen wie eine Einsiedelei, was Cottle bislang äußerst recht gewesen war.
Bis um Viertel vor vier am heutigen Morgen, als er von einem Besucher mit Skimaske wachgerüttelt worden war. Da war die scheinbar gemütliche Abgeschiedenheit zur furchtbaren Isolat i on geworden.
Cottle war eingeschlafen, ohne die Öllampe zu löschen, bei deren Schein er Westernromane las und sich in den Schlummer trank. Trotz des Lichts hatte er keine nützlichen Einzelheiten wahrgenommen, was das Aussehen des Mörders anging. Er konnte weder dessen Größe noch dessen Gewicht schätzen.
Außerdem behauptete er, die Stimme des Irren weise keinerlei Eigenschaften auf, an die er sich erinnern könne.
Billy argwöhnte, dass Cottle mehr wusste, sich jedoch fürcht e te, es zu erzählen. Die Angst, die nun in seinen verblassten blauen Augen brodelte, war rein und intensiv, wenn auch nicht so unmittelbar wie das Entsetzen, mit dem er das Foto der unbekannten Frau beschrieben hatte, deren Gesicht der Irre in einem Einmachglas aufbewahrte.
Der Länge seiner dürren Finger und der breiten Knochen seiner knotigen Handgelenke nach zu urteilen, war Cottle früher durchaus in der Lage gewesen, sich zu wehren. Inzwischen war er jedoch, wie er selbst sagte, schwach geworden, nicht nur in emotionaler und moralischer Hinsicht, sondern auch körperlich.
Trotz alledem beugte Billy sich vor und versuchte noch ei n mal, ihn als Verbündeten zu gewinnen: »Bestätigen Sie doch einfach meine Aussage bei der Polizei. Helfen Sie mir …«
»Ich kann noch nicht mal mir selbst helfen, Mr. Wiles.«
»Irgendwann haben Sie’s aber gekonnt.«
»Ich will mich gar nicht daran erinnern.«
»Woran?«
»An alles. Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt – ich bin schwach.«
»Hört sich so an, als wollten Sie das sein.«
Cottle führte die Flasche an die Lippen und lächelte matt, bevor er einen Schluck nahm. »Sie wissen doch: Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Oder so ähnlich.«
»Wenn Sie es schon nicht für sich selbst tun, dann tun Sie’s doch für mich!«
Cottle leckte sich die Lippen, die von der Hitze und der au s trocknenden Wirkung des Whiskeys übel aufgesprungen waren. »Wieso sollte ich?«
»Weil die Sanftmütigen nicht einfach dastehen und zuschauen, wie andere Menschen zugrunde gerichtet werden. Sanftmütig sein – das heißt nicht, feige zu sein. Das ist was durchaus anderes.«
»Auch durch Beleidigungen können Sie mich nicht zwingen, Sie zu unterstützen. Ich beleidige nie jemanden, und ich bin auch nie beleidigt. Ich weiß, dass ich ein Nichts bin, und das ist in Ordnung so.«
»Bloß weil Sie hierhergekommen sind, um zu tun, was er von Ihnen verlangt, sind Sie da draußen in Ihrer Hütte noch lange nicht in Sicherheit.«
Cottle schraubte die Flasche zu. »Mehr als Sie.«
»Irrtum. Sie wissen zu viel. Hören Sie mal, die Polizei wird Sie beschützen!«
Das entlockte Cottle nur ein trockenes Lachen. »Sind Sie deshalb so schnell zu denen hinmarschiert – weil die Sie beschützen werden?«
Billy sagte gar nichts mehr.
Durch sein Schweigen ermutigt, schlug Cottle einen schärferen Tonfall an, der jedoch weniger gehässig als selbstgefällig klang: »Sie sind ein Nichts, genau wie ich, Sie wissen es bloß noch nicht. Sie sind ein Nichts, ich bin ein Nichts, wir
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