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Irrsinn

Irrsinn

Titel: Irrsinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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lief es kalt den Rücken hinunter. »Wie wollen Sie das sehen? Sie schauen mich ja nicht mal an.«
    Ralph Cottle sah Billy wieder in die Augen. »Hat er Ihnen dieses Glas gezeigt, in dem ein Frauengesicht schwimmt wie eine Qualle?«
    Mit einem Mal war die Unterhaltung von der Hauptstrecke auf ein äußerst seltsames Nebengleis abgebogen.
    »Was für ein Gesicht?«, fragte Billy.
    Cottle nahm schon wieder einen Schluck. »Er sagt, er hat das Gesicht jetzt schon drei Jahre im Glas.«
    »Im Glas? Wie wär’s, wenn Sie mal die Flasche wegstecken, Ralph. Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen.«
    Cottle schloss die Augen und zog eine Grimasse, als stünde das, was er beschrieb, direkt vor ihm. »Es ist ein großes Ei n machglas mit Deckel. Er wechselt regelmäßig das Formaldehyd, damit es sich nicht trübt.«
    Der Himmel jenseits der Veranda war kristallklar. Hoch oben im hellen Licht kreiste ein einsamer Habicht, scharf umrissen wie ein Schatten.
    »Das Gesicht faltet sich immer wieder zusammen«, fuhr Cottle fort, »deshalb sieht man es erst nicht richtig. Man meint, es ist irgendetwas aus dem Meer, was Bauschiges, das sich geballt hat. Aber dann schwenkt er vorsichtig das Glas, die Flüssigkeit kommt in Bewegung, und das Gesicht … es blüht auf.«
    So weit der Rasen reichte, war das Gras feucht und grün; dahinter, wo es der Natur überlassen blieb, war es höher und golden. Beide Sorten verströmten einen eigenen Duft, der auf unterschiedliche Weise frisch und angenehm war.
    »Zuerst erkennt man ein Ohr«, sagte Ralph Cottle. »Durch den Knorpel behalten die Ohren ihre Form. In der Nase ist zwar auch Knorpel, aber sie hat ihre Form nicht besonders gut behalten. Die Nase ist nur noch ein Klumpen.«
    Aus der schimmernden Höhe sank der Habicht in einer enger werdenden Spirale herab, mit stillen, harmonischen Schwüngen.
    »Die Lippen sind voll, aber der Mund ist bloß ein Loch, und auch die Augen sind Löcher. Haare sind nicht daran, weil er das Gesicht am Haaransatz abgetrennt hat. Es geht von der Stirn bis zum Kinn. Man sieht, dass es keinem Mann gehört hat, sondern einer Frau. Er sagt, sie ist schön gewesen, aber im Glas sieht man das nicht mehr.«
    »Das ist bestimmt bloß eine Latexmaske«, sagte Billy. »Ein reiner Schwindel.«
    »Oh, es ist durchaus echt, so echt wie ein unheilbares Kreb s geschwür. Er sagt, es war der zweite Akt in einer seiner besten Darbietungen.«
    »Was für Darbietungen?«
    »Er hat vier Fotos ihres Gesichts. Auf dem ersten ist sie am Leben. Dann ist sie tot. Auf dem dritten ist das Gesicht teilweise abgeschält. Und auf dem vierten sind am Kopf nur noch die Haare dran. Die ganze Gesichtshaut ist weg, und wo sie war, ist bloß noch Knochen. Ein grinsender Schädel.«
    Urplötzlich gab der Habicht sein anmutiges Kreisen auf und stürzte sich in freiem Fall aufs Gras herab.
    Die Whiskeyflasche teilte Cottle mit, dass er wieder eine Stärkung brauchte, worauf er sich ein neues Fundament für seinen brüchigen Mut antrank.
    Cottle stieß eine alkoholgeschwängerte Atemwolke aus.
    »Das erste Foto, auf dem sie am Leben ist – da war sie vie l leicht hübsch, wie er behauptet. Sehen kann man das nicht, weil sie schreckliche Furcht hat. Sie ist hässlich vor Entsetzen.«
    Das hohe Gras, das bisher reglos in der Hitze gestanden hatte, bewegte sich kurz an einem einzelnen Ort, wo Federn auf die Halme peitschten.
    »Das Gesicht auf diesem ersten Bild«, sagte Cottle, »ist schlimmer als das im Glas. Es ist viel schlimmer.«
    Der Habicht erhob sich aus dem Gras und stieg empor. Seine Klauen umklammerten etwas Kleines, vielleicht eine Feldmaus, das vor Entsetzen zappelte oder auch nicht. Auf die Entfernung sah man das nicht gut.
    Cottles Stimme hörte sich an wie eine Feile, die über uraltes Holz schabte. »Wenn ich nicht genau das tue, was er von mir verlangt, dann wird er mein Gesicht auch in ein Glas stecken. Während er es abnimmt, sagt er, wird er mich am Leben erhalten – und bei vollem Bewusstsein.«
    Hoch oben am klaren Himmel flog der Habicht wieder so schwarz und scharf umrissen wie ein Schatten dahin. Seine Flügel durchschnitten die schimmernde Luft. Die thermischen Strömungen waren wie ein unsichtbarer Fluss, durch den er schwamm, bis er kleiner wurde und verschwand. Er hatte nur getötet, was er brauchte, um zu überleben.
     

21

    Ralph Cottle saß auf dem Schaukelstuhl, ohne zu schaukeln, und erzählte, er wohne in einer baufälligen Hütte am Fluss. Sie bestehe aus zwei

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