Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
umfassender zu betätigen. So lautet die herrschende Meinung seit Jahrzehnten, in der Öffentlichkeit und der Fachwelt gleichermaßen. Wie so viele andere Trends und Entwicklungen setzte sich »die Pille«, wie sie schon bald genannt wurde, mit ein paar Jahren Verzögerung auch im Rest der westlichen Welt und schließlich darüber hinaus durch. In der Bundesrepublik kam sie 1961 heraus, ebenso in Großbritannien. Die Niederlande folgten 1964, die DDR zog 1965 nach, Frankreich 1967.
In den Vereinigten Staaten wird die Sexuelle Revolution mit den Sechzigerjahren verbunden, seit deren mittleren Jahren bei jungen Leuten die Zahl der Sexualkontakte mit unterschiedlichen Partnern anstieg. Nicht überraschend, dass die mehrfach ausgezeichnete US-amerikanische Fernsehserie Mad Men diesem Zusammenhang denn auch viel Aufmerksamkeit widmet. Mit einiger Verspätung erreichte die Entwicklung zu mehr sexueller Freiheit und Selbstbestimmung auch Europa und wird hier gleichermaßen mit dem allseits gerühmten Segen der Antibabypille in Verbindung gebracht. Uwe Wesels Buch über die westdeutschen 68er, Die verspielte Revolution , setzt die seit Anfang des Jahrzehnts verfügbare »Pille« in direkten Zusammenhang zum freieren Sexualverhalten. Dort ist vom Glück für die Revolte die Rede, »in einer Bundesrepublik zu entstehen, die nicht nur auf dem Höhepunkt ihres Wirtschaftswunders angekommen war, sondern seit einigen Jahren auch schon die Antibabypille kannte und noch nicht die Gefahren von Aids. Und die alten Nazis mit ihren lustfeindlichen Ideen waren auch noch da …« Im Westdeutschland der Nachkriegszeit galt vielen Kritikern die strenge Sexualmoral weniger als ein Zeichen jahrhundertelanger kirchlicher Prägung und nachwirkender wilhelminischer Prüderie als vornehmlich einer repressiven Sexualität aus der Nazizeit. Das Gegengift machte jedenfalls Spaß: »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.«
Tatsächlich jedoch begann, mindestens in den USA, aber mit einiger Wahrscheinlichkeit auch anderswo, die Sexuelle Revolution ein volles Jahrzehnt früher, weil andere Gefahren im Zusammenhang mit Sexualität eingedämmt werden konnten: 1943, mitten im Zweiten Weltkrieg, erkannte man Penicillin als geeignet zur Behandlung von Syphilis. Das machte die Behandlung bedeutend billiger und einfacher und senkte die Risiken dieser gefürchteten sexuell übertragbaren Krankheit.
Die Geschlechtskrankheit Syphilis entfaltete in Europa seit dem späten 15. Jahrhundert ihren Schrecken, und bald stand auch fest, dass sie durch Sexualkontakte übertragen wurde. Bis zur Entwicklung einer wirksamen Behandlung vergingen aber noch mehrere Hundert Jahre, schon weil der Erreger überhaupt erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin isoliert werden konnte. Dann ging es rasch, bald darauf wurde eine Serumdiagnose entwickelt, und die Suche nach einer heilsamen Arznei setzte ein.
Die medikamentöse Behandlung von Syphilis begann der Berliner Arzt und Pionier der experimentellen Chemotherapie Paul Ehrlich 1909, im Jahr darauf kam seine Arznei Salvarsan auf den Markt, eine organische Arsenverbindung. Die Behandlung erwies sich als zeitaufwendig, aber wirksam. Trotzdem war damals die Empörung groß, weil eine Heilung der Syphilis für Kritiker der verwerflichen Tat gleichkam, dem moralischen Verfall Tür und Tor zu öffnen. Selbst der Reichstag sah sich veranlasst, die Angelegenheit zu debattieren.
Salvarsan blieb für vier Jahrzehnte das Mittel der Wahl zur Behandlung der Syphilis. 1928 jedoch entdeckte der schottische Bakteriologe Alexander Fleming das antibakterielle Potenzial von Penicillin – Startschuss für die Behandlung mit Antibiotika. Das war auch vielen Leidtragenden zu wünschen, denn die Epidemie breitete sich weiter aus. In den Vereinigten Staaten starben allein 1939 etwa 20000 Menschen an den Folgen einer Syphiliserkrankung. Aber erst im Zweiten Weltkrieg geriet die Sache in Bewegung, weil die Armee mit einer regelrechten Epidemie massiv zu kämpfen hatte. Gegen Ende des Krieges förderte eine Erhebung von Musterungsdaten zutage, dass schon unter den Männern, die noch gar nicht an die Front geschickt worden waren, fünf Prozent an Syphilis litten. Dass im Laufe des Einsatzes diese Zahl kräftig stieg, belegten die erschreckenden Infektionszahlen unter den Soldaten im Dienst. Die Behandlung mit Salvarsan brachte allerdings den für die Truppen bedeutsamen Nachteil mit sich, dass sich die Gesundung über
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