Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
grausames, Monate dauerndes Strafgericht, ließ die Männer foltern und über tausend von ihnen öffentlich hinrichten. Ebenso grausam ging er mit dem eigenen ungeliebten Sohn um, befahl, ihn wegen einer angeblichen Verschwörung zum Tode zu verurteilen – der Zarewitsch starb noch vor der Vollstreckung an den Folgen der Folterqualen. Charakterlich war Peter so brutal und zügellos, wie es dem Klischee vom derben Russen entsprach, im verfeinerten, ja verweichlichten europäischen Barock aber undenkbar war. Da ist es eine aufschlussreiche Petitesse, dass der Zar, als er 1717 und damit zwei Jahrzehnte nach seiner großen Lehrreise durch Europa abermals Berlin beehrte, das ihm als Gästehaus zur Verfügung gestellte Schlösschen Monbijou mit seinem Gefolge derart »barbarisch« heimsuchte, dass es selbst den nicht übermäßig feingeistigen preußischen Hof nachhaltig erschütterte. Inzwischen kannte der Zar Europa und seine Sitten ganz gut, hielt es aber offenbar nicht für nötig, sich und sein Gefolge an seine Gastgeber anzupassen, nur ein paar lauwarm bedauernde Bemerkungen über seine schlechte Erziehung ließ er fallen.
Am ehesten könnte man also die von Peter verfolgte Strategie mit »vom Westen lernen heißt siegen lernen« auf den Punkt bringen – das aber bedeutet eine strategisch bedingte, selektive Westorientierung zum Zwecke von wirtschaftlichem Aufschwung und Großmachtpolitik. Darauf passt das Verdikt Rousseaus, der Peter als »nachahmenden Geist« bezeichnete. Und Sankt Petersburg kann man dann doch als steinernes Symbol dafür begreifen, wie der Zar seinen Westdrang in die Tat umsetzte, denn seine Errichtung wurde ähnlich brachial vorangetrieben wie Peters angebliche Verwestlichung. Die Stadtgründung an der Newa aber bewährte sich langfristig auf das Prächtigste, während Peters Reformeifer nur sehr begrenzte Wirksamkeit entfaltete.
England ging in der europäischen Geschichte einen Sonderweg – IRRTUM!
Britannia, du hast es besser – diesen Eindruck kann man leicht gewinnen, wenn man sich mit der englischen Geschichte befasst. Natürlich, auch dort gab es Bürgerkrieg und Invasionen, Umsturz und Königsmord. Aber alles in allem wies die englische Geschichte doch sehr viel geradliniger in Richtung moderner Demokratie und Zivilgesellschaft als anderswo. Dieser Lesart zufolge entwickelte England frühzeitig freiheitliche Traditionen und betrieb sie kontinuierlich weiter, was das Land immun machte gegen den Absolutismus, der Kontinentaleuropa im 17. Jahrhundert erfasste. Denn die Demokratie hat in England ihren Anfang sehr früh genommen: Schon mit der Magna Charta Libertatum, der großen Freiheitsurkunde von 1215, trotzte das Parlament dem König gewichtige Zugeständnisse ab, was eine fruchtbare Konsenskultur zwischen beiden beförderte. In der »Glorious Revolution« von 1688, dem unblutigen Sturz des Königs Jakob II. und der Bill of Rights, wurde die königliche Macht schließlich ein weiteres Mal zurechtgestutzt. Eine zivilisierte Entwicklung in Richtung Moderne verschonte England überhaupt von allzu extremen oder extremistischen Ausschlägen in jedweder Richtung, ob nun absolutistisch, revolutionär oder totalitär.
Diese gefällige Sicht auf die englische Geschichte wird nicht zuletzt in England selbst gern vertreten, wo sie lange Zeit sogar common sense der Historiographie und des öffentlichen Bewusstseins war. Sie hat ihren Ursprung im 15. Jahrhundert, wurde aber im 19. Jahrhundert besonders populär, als die Welt- und Kolonialmacht Großbritannien international unangefochten an der Spitze stand. Dieser Blick auf die nationale Vergangenheit ist durchaus vergleichbar mit der, zugegebenermaßen ungleich fataleren, preußisch-deutschen Sicht nach der Reichsgründung 1871, derzufolge die deutsche Geschichte seit der Schlacht im Teutoburger Wald geradewegs und folgerichtig auf ihre Erfüllung im hohenzollerschen Kaisertum zugesteuert habe. Ähnlich erfüllend und beglückend sei in England alles auf den modernen Parlamentarismus hinausgelaufen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts dann schrieben britische Autoren selbstzufrieden und im Blick die diversen Revolutionen und anderen Fehlentwicklungen auf dem Kontinent von der gemächlichen Evolution in England. Das alles passt zum britischen Selbstverständnis, zwar irgendwie schon, aber doch nicht ganz europäisch zu sein, sondern vielmehr ein Sonderfall in splendid isolation , was noch immer die englische Befindlichkeit
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