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Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt

Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt

Titel: Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ingmar Gutberlet
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zu ordnen. Der Kleinstaaterei machte er ein Ende, achtete bei der Neuverteilung des Landes aber tunlichst auf den eigenen Vorteil, indem er die größer gewordenen Mittelmächte an sich band und damit Puffer zwischen sich und Österreich bzw. Preußen setzte.
    Dabei musste das Heilige Römische Reich über die Klinge springen, das der unverbesserliche Spötter Voltaire einmal als weder heilig noch römisch noch reich bezeichnet hatte. Und sonderlich laut beklagt wurde sein Ende auch nicht, so jedenfalls lautet die noch immer verbreitete Meinung. Es war ja seit Langem erwartet worden, selbst der römische Kaiser hatte sich schon vorsorglich eine zweite Kaiserkrone zugelegt, denn im August 1804 hatte er Österreich zu einem eigenen Kaiserreich befördert. Am 6. August 1806 schließlich erklangen von der Wiener Jesuitenkirche »Zu den neun Chören der Engel« Fanfaren, die dem Reichsherold bei der Verlesung der letzten Erklärung des Kaisers des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation assistierten: Er verkündete das Ende, weil Franz II., der letzte einer langen Reihe römischer Kaiser, seine Krone niederlegte, das Reich auflöste und fortan als Franz I. das Kaisertum Österreich pflegte, nachdem er für knapp zwei Jahre zwei Kaisertitel auf sich vereint hatte.
    Unter Historikern war lange Zeit die Annahme vorherrschend, die Menschen im Reich hätten die historische Wende gleichgültig über sich ergehen lassen. Johann Wolfgang von Goethe, zum Zeitpunkt gerade von Karlsbad nach Jena unterwegs, notierte lapidar: »Auch fanden wir bey unserer Rückreise durch Hof in den Zeitungen die Nachricht: das deutsche Reich sei aufgelöst.« Seine Mutter vermerkte den Moment, als zum ersten Mal im Gottesdienst Kaiser und Reich in den Fürbitten nicht mehr vorkamen. Sie vergleicht den Zustand des Alten Reiches mit dem eines alten, kranken Freundes. Der Historiker Treitschke schrieb Ende des 19. Jahrhunderts, die Deutschen hätten das Ende »stumm und kalt« hingenommen. Auch spätere Geschichtswissenschaftler benutzen Formulierungen wie »sang- und klanglos«, »achselzuckend« oder »keine Emotionen«, wenn es um die Reaktionen in der Öffentlichkeit geht.    
    Aber so sang- und klanglos, wie im Allgemeinen beschrieben, ging das Reich 1806 eben nicht unter. Dass keiner ihm eine Träne nachweinte, ist schlichtweg falsch. Immerhin endete eine Epoche, und das nahmen die Menschen damals sehr wohl wahr – auch wenn sie in bewegten Zeiten lebten und die epochalen Nachrichten sich häuften. Das Reich aber war über Jahrhunderte die wichtigste Konstante der deutschen Geschichte gewesen, schon wegen der territorialen und konfessionellen Zersplitterung des Territoriums, das es umfasste. Nunmehr gab es ein Davor und ein Danach, dazwischen lag die Auflösung des Reiches 1806.
    Tatsächlich herrschten in der Bevölkerung Entsetzen und Betroffenheit, ebenso Erschütterung und Scham – quer durch alle Schichten. Die Bürger Wiens beispielsweise reagierten schockiert, von »Gemütsbeklemmung« spricht ein Beobachter. Von ostentativer Trauerkleidung wird berichtet. An den Orten der dezentral verteilten Reichsbehörden fürchtete man die wirtschaftlichen Konsequenzen der Ereignisse, reichsweit rechneten Bürger mit erheblichem Statusverlust, die Kirchen erlebten allerorten einen sommeruntypischen Zulauf. In Berlin äußerten sich die patriotischen Gefühle und Enttäuschungen in spontanen Reaktionen im Verlauf von Theateraufführungen. Und auch Goethe, inzwischen nach Weimar zurückgekehrt, ließen die Ereignisse keineswegs unbeeindruckt: Er schreibt von einer »großen Schwankung der Gemüter« und der Mühe, »sich selbst im Gleichgewicht zu halten«. In einem Brief spricht die Herzogin von Sachsen von tiefer Trauer und dass sie ihn eigentlich auf einem Bogen mit Trauerrand hätte schreiben müssen.
    Allerdings jagte in dieser Zeit eine schlechte Nachricht die nächste, sodass mitunter schwer zu gewichten war, welche Hiobsbotschaft die größere darstellte. Angesichts der sich überstürzenden Ereignisse sah man außerdem eher davon ab, sich per Brief zu verständigen: Die ohnehin sehr lange Beförderungsdauer der Postsendungen verzögerte sich aufgrund der Ereignisse noch zusätzlich. Dass ein großer Schock wie der des Reichsendes von einem noch größeren abgelöst wurde, nämlich der militärischen Niederlage der drei Großmächte Russland, Österreich und Preußen gegen Frankreich in Austerlitz und Jena/Auerstedt, macht aus

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