Irrtum!: 50 Mal Geschichte richtiggestellt
Visier genommen, dann gab ihr ein Militärarzt einen Gnadenschuss ins Ohr. Von den letzten Stunden und Minuten ihres Lebens verbreitete sich die Kunde, sie habe vor ihrem Bewacher getanzt, dem Erschießungskommando mit ihren Handschuhen zugewinkt oder ihre Brust entblößt, um die Soldaten zu verwirren. Die französischen Zeitungen schrieben von Genugtuung für Frankreich und einem Sieg der Justiz. Aber auch die deutsche Propagandamaschine griff den Fall sogleich auf, um gegen Frankreich zu agitieren.
Weder im Allgemeinen noch im besonderen Fall der Mata Hari stehen das allseitige Spionagefieber und die nachfolgende Legendenbildung in irgendeinem Verhältnis zur Zahl eingesetzter Informanten und vor allem nicht zum Erfolg der Aufklärung während des Ersten Weltkriegs. Der größte Teil der Informationen war falsch oder wertlos; andererseits gab es solche, deren Bedeutung man schlichtweg in Abrede stellte. So taten es die Franzosen mit ihren akkuraten Informationen über den Schlieffen-Plan, mit dem der deutsche Generalstab im Kriegsfall gen Westen vorzugehen beabsichtigte. Die Deutschen wiederum verkannten den Wert von Vorabinformationen zum alliierten Plan für die Schlacht an der Somme oder über die neuartige Waffe namens Panzer. Mata Hari leistete nicht einmal einen relevanten Beitrag für den deutschen Geheimdienst, wie selbst in Frankreich zugegeben wurde – allerdings erst 1932. Als damals der Vorsitzende des Kriegsrats Oberst Lacroix sich die Akte Mata Hari noch einmal ansah, befand er, darin sei keinerlei »konkreter, greifbarer, absoluter, unwiderlegbarer Beweis«. Das hatte einige Jahre zuvor auch ein Angehöriger des deutschen Nachrichtendienstes, Generalmajor Kempp, zu Protokoll gegeben: »Mata Hari hat gar nichts für den deutschen Geheimdienst geleistet. Ihr Fall ist über die Maßen aufgebauscht worden.« Im selben Jahr 1929 schrieb der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld, bei Mata Hari habe es sich um eine »große Liebeskünstlerin« und »kleine Dilettantenspionin« gehandelt, »die deshalb erschossen wurde, weil man im Herbst 1917 eine international große Geste brauchte«.
Zumindest die Popkultur hat der angeblichen Meisterspionin mehr Ehre angetan: Nicht nur gibt es mehrere Verfilmungen über den Fall Mata Hari, die darin unter anderem von Greta Garbo verkörpert wird, auch Ballett, Theater, Film und Musical gingen an der Belle-Époque-Kurtisane nicht vorbei. In Computerspielen, Fernsehserien und Comics dient ihr Name als Symbol für Verruchtheit, Verführung und todgeweihtes Laster, Szenekneipen und eine Absinthmarke nutzen ihren Namen. Bei Asterix und Obelix erhielt sie ebenso ein Plätzchen wie in Songs von Madonna oder Ofra Haza, von den »Ärzten« oder in einem norwegischen Grand-Prix-Beitrag. Da fällt kaum ins Gewicht, das Ravels La Valse nur sehr indirekt mit ihr zu tun hat.
Kaiser Wilhelm II. war schuld am Ersten Weltkrieg – IRRTUM!
Für Historiker umfassen Jahrhunderte selten genau einhundert Jahre – und das 20. Jahrhundert gehört zu den kurzen. Es endet mit dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 und beginnt am 28. Juni 1914 mit dem Attentat auf den österreichischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand im bosnischen Sarajevo bzw. mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs einen Monat darauf. Der verheerende Krieg wurde mit einiger Berechtigung als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet: weil es sich um den ersten »totalen« Krieg handelte, weil er die Verhältnisse in Europa zuoberst kehrte, weil große Reiche zu existieren aufhörten, weil sein misstönender Nachhall noch lange zu vernehmen war und das politische Klima des Kontinents vergiftete – und weil Europa bis heute von seinen Ergebnissen geprägt ist. Sein Ende fand der Krieg in den Pariser Vorortverträgen, in denen die großen Mächte unter den Siegern dem erschütterten Kontinent wieder eine Ordnung gaben. Der bekannteste von ihnen ist der Versailler Vertrag, auf dessen Inhalt der Verlierer, das Deutsche Reich, so gut wie keinen Einfluss nehmen konnte. Als die überaus harten Bedingungen in Deutschland bekannt wurden, waren das Entsetzen ohne Beispiel und eine innenpolitische Krise die Folge. Aber auch der Vertrag von Saint-Germain-en-Laye, der die Donaumonarchie Österreich-Ungarn Geschichte werden ließ, war von größter Bedeutung für den europäischen Kontinent nach dem Krieg.
Die Siegermächte sahen die Schuld an der großen Katastrophe allein auf der Seite der
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