Irrweg Grundeinkommen
auseinandersetzen. Zunächst wollen wir einen kurzen Blick auf die politischen Verhältnisse werfen und beleuchten, unter welchen Umständen es in den letzten 30 Jahren möglich war, eine solch dramatische Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu erreichen, dass das Gefühl für Solidarität und Partizipation, das bis dahin in allen Parteien dominiert hatte, fast vollständig verschwand. Im zweiten Schritt werden wir empirisch genau beleuchten, was wann geschehen ist, um dann im dritten Schritt die theoretischen Folgerungen zu ziehen, die aber eminent politisch sind, weil nur auf der Basis einer neuen Theorie eine neue Politik entstehen kann.
Ein historischer Blick auf die politischen Verhältnisse
Die große Umverteilung begann Mitte der 1970er Jahre
Der große Bruch für die deutsche und europäische Wirtschaftspolitik ereignete sich Anfang der 1970er Jahre und wird am besten beschrieben mit dem Ende des Systems von Bretton Woods, also eines globalen Währungssystems, das der westlichen Welt auf nie vorher und nie nachher dagewesene Weise Wohlstand und Wachstum beschert hatte. Man muss sich klarmachen, dass während der zwei Jahrzehnte nach dem Krieg die amerikanischeGeldpolitik, die auf nichts anderes als Wachstumsanregung bedacht war, die gesamte Wirtschaftspolitik der westlichen Welt dominiert hatte. In deren Windschatten und unter den Bedingungen einer massiv unterbewerteten Währung konnten Deutschland und andere Länder ein Wachstumsmodell realisieren, das vor allem auf kräftigen Lohnsteigerungen und dem permanenten Wachstum des privaten Verbrauchs basierte. 36
Nachdem Bretton Woods beendet und fast jedes Land in seiner Wirtschaftspolitik auf sich alleine gestellt war, begann in Deutschland der Kampf um den richtigen Weg in der Wirtschaftspolitik. Nach dem Regierungswechsel im Jahre 1969 hatte sich die sozialliberale Regierung daran gemacht, das Verhältnis von Staat zu Markt neu zu definieren. »Reformen zu wagen« war im Wahlkampf versprochen worden. Das hieß damals noch, dass der Staat auch unter Einsatz finanzieller Mittel versuchte, die Lebensverhältnisse aller Bürger – und insbesondere derjenigen, die nicht in voller Weise an der allgemeinen Prosperität teilhaben konnten – zu verbessern. Außenpolitisch dominierte allerdings noch immer der Kalte Krieg. Er forderte die westlichen Länder weiterhin heraus zu zeigen, dass ein marktwirtschaftliches System »sozial« und effizient sein kann.
Das aber gelang nicht. Während zunächst das Tempo der Reformen hoch war, weil sich in Deutschland wie in vielen anderen Ländern nach 20 Jahren ungebrochenen »privaten« Wachstums ein Nachholbedarf im Bereich der öffentlichen Güter herausgebildet hatte, zogen bald dunkle Wolken auf. Zwar fragten die Bürger Anfang der 1970er Jahre selbst vermehrt solche Güter nach, die stärker der individuellen Absicherung des erreichten Wohlstandsniveaus als dessen originärer Ausweitung dienten – die Nachfrage nach Gütern zur Gesundheitsvorsorge war dabei das herausragende Beispiel –, aber in der Wirtschaftspolitik begann mit der nationalen Autonomie in geldpolitischen Fragen ein völlig neues Regime. Angesichts einer relativ ungebremsten privatwirtschaftlichen Expansion und angesichts einer Überbeschäftigung am Arbeitsmarkt (1970 gab es fast eine Million offene Stellen und praktischkeine Arbeitslosen) hatten sich die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse massiv verschoben und forderten die Geldpolitik heraus. Verschärfte Arbeitskämpfe mit höheren Lohnabschlüssen und einer steigenden Lohnquote, ein neues Betriebsverfassungsgesetz und die paritätische Mitbestimmung waren Symptome für die Machtverschiebung am Arbeitsmarkt. Der Staat stellte sich in den meisten dieser Auseinandersetzungen auf die Seite der Arbeitnehmer und untermauerte so seinen Anspruch, »Reformen zu wagen«.
In die Euphorie eines vom Staat gestalt- und steuerbaren Gemeinwesens hinein platzte die erste Ölpreisexplosion. Zum ersten Mal in diesem Jahrhundert sahen sich die westlichen Industrieländer gemeinsam einem von Entwicklungsländern ausgehenden Schock ausgesetzt, der die wirtschaftlichen Grundfesten erschütterte und abgestimmte wirtschaftspolitische Antworten verlangt hätte. Der Westen aber versagte vollständig. Zunächst waren es in fast allen Ländern die Arbeitnehmer, die im Glanze ihrer durch Vollbeschäftigung gewonnenen Macht zu demonstrieren versuchten, dass sie sich von den Folgen der
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