Irrwege
winziger Tropfen, wie eine einzelne Träne, fiel in die Leere…
»Haplo, du solltest kommen und dir das ansehen.«
Hugh Mordhand war in der Tür aufgetaucht. Seine
Stimme klang rauh, drängend.
Haplo drehte sich herum. Marit befreite sich aus
seinem Griff. Er warf ihr einen Blick zu, und in seinen Augen spürte sie
dieselbe Wärme wie in den Emanationen der Runenmagie. Er streckte ihr die Hand
entgegen. Sie brauchte nur danach zu greifen…
Der Hund kam angetrabt. Schweifwedelnd, mit heraushängender
Zunge, machte er Anstalten, sie als neue Freundin zu begrüßen.
Marit schleuderte den Dolch nach ihm.
Sie war aufgewühlt, verstört, ihre Hand
zitterte. Die Waffe streifte den Hund an der linken Flanke.
Das Tier jaulte schmerzerfüllt auf und tat einen
Satz nach hinten. Dicht neben dem Bein des Assassinen klirrte der Dolch gegen
die Wand, Hugh stellte den Fuß darauf. Alfreds Gesicht war kreidebleich vor
Schreck, es sah aus, als könne er jeden Moment wieder in Ohnmacht fallen.
Marit wandte ihnen allen den Rücken zu. »Halt
mir das Vieh vom Leib, Haplo. Das Gesetz versagt mir, dich zu töten. Den
verfluchten Köter schützt es nicht.«
»Komm her, alter Junge«, lockte Haplo mit
sanfter Stimme. Er untersuchte die Wunde. »Das heilt bald wieder. Nur ein
Kratzer. Du hast Glück gehabt.«
»Für den Fall, daß es jemanden interessiert«,
äußerte Hugh Mordhand, »ich habe den Weg nach draußen gefunden. Wenigstens
hoffe ich, es ist ein Weg nach draußen. Du kommst besser mit und wirfst selbst
einen Blick darauf. Merkwürdige Sache.«
Haplo schaute Alfred an, der glühend rot
geworden war. »Was ist los damit? Ist er bewacht? Durch Magie?«
»Nichts in der Art«, antwortete Mordhand. »Mehr
ein Witz.«
»Ich bezweifle, daß es ein Witz ist. Die Sartan
haben keinen nennenswerten Sinn für Humor.«
»Aber jemand anders. Der Weg führt durch einen
Irrgarten.«
»Ein Irrgarten…«, wiederholte Haplo leise.
Plötzlich war ihm alles klar. Und Marit begriff
im selben Moment wie Haplo. Die Leere in ihr füllte sich; füllte sich mit
einer Angst, die strampelte und zappelte wie etwas Lebendiges. Ihr wurde
beinahe übel.
»Also hat Samah seine Drohung wahrgemacht«,
sagte Haplo zu Alfred.
Der Sartan nickte. Sein Gesicht war eine Maske
des Elends. »Ja, er hat sie wahrgemacht.«
»Er weiß, wo wir sind?« verlangte Mordhand zu
wissen.
»Er weiß es«, bestätigte Haplo gefaßt. »Er hat
es die ganze Zeit gewußt. Im Labyrinth.«
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Kapitel 29
Das Labyrinth
Sie verließen den Raum aus weißem Marmor und
seine Kristallsärge. Hugh an der Spitze, folgten sie einem Gang mit Wänden aus
gewachsenem Fels. Der Gang führte in leichter Neigung stetig abwärts. An seinem
Ende öffnete sich hinter einem ebenfalls in den Fels gehauenen Torbogen eine
gewaltige Höhle.
Die gewölbte Decke der Höhle verlor sich in den
Schatten. Ein fahles, graues Licht von einem Punkt gegenüber dem Eingang
glänzte auf der feuchten Oberfläche riesiger Stalaktiten; wie Zähne in einem
weit aufgesperrten Rachen wuchsen ihnen Stalagmiten vom Höhlenboden entgegen.
Durch Lücken in dem Wald steinerner Zähne strudelte schwarzes Wasser, floß in
Richtung der tristen Helligkeit.
Eine ganz gewöhnliche Höhle. Haplo betrachtete
den Torbogen. Er berührte Marits Arm und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf ein
oben eingemeißeltes Zeichen – eine einzelne Sartanrune. Marit warf einen Blick
darauf, erschauerte und lehnte sich kraftlos an die feuchte Wand.
Ihr abgewendetes Gesicht lag verborgen hinter
dem Schleier der langen Haare. Haplo wußte, wenn er die wirren Strähnen
zurückstrich und die Fingerspitzen an ihre Wange legte, fühlte er Tränen. Er
machte ihr keinen Vorwurf. Es war noch nicht lange her, da hätte er auch
geweint, aber nun empfand er eine freudige Erregung. Zurückzukommen – das war
schließlich, was er die ganze Zeit geplant hatte.
Marit beherrschte die Runenschrift der Sartan
nicht, aber dieses eine Sigel kannten alle Patryn. Kannten, haßten und
verabscheuten es.
»Das Erste Tor«, sagte Haplo im Ton grimmiger Befriedigung.
»Wir stehen am Beginn des Labyrinths.«
»Labyrinth«, wiederholte Hugh Mordhand. »Dann
hatte ich recht. Das ist ein Irrgarten da draußen.« Er deutete mit dem
Pfeifenstiel in die Grotte.
Reihen von Stalagmiten setzten sich fort, bis
die Dunkelheit sie verschluckte; ein Pfad, naß und schlüpfrig, führte von dem
Torbogen in den bizarren
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