Irrwege
verschiedensten Zwecken mißbraucht –
kaum mehr als ein spitzenbesetzter Lappen übriggeblieben war. Als sie es nicht
fand, wischte sie sich mit dem Saum ihrer Stola über die Augen.
»Oh, du bist es«, sagte sie.
Drugar stand vor ihr und musterte sie mit einer
gewöhnlichen finsteren Miene. Aber seine Stimme klang sanft, beinahe zärtlich.
Aleatha erkannte die Symptome schüchterner Verehrung, und obgleich es nur der
Zwerg war, fühlte sie sich getröstet.
»Ich habe das nicht so gemeint«, fügte sie
hastig hinzu, weil sie nachträglich merkte, daß ihre Worte eben nicht
besonders liebenswürdig gewesen waren. »Ich bin froh, daß du es bist. Du bist
der einzige mit Verstand. Die anderen sind allesamt Schwachköpfe. Hier, setz
dich zu mir.«
Sie rückte ein Stück zur Seite.
Drugar zögerte. Er vermied es, sich in Gegenwart
der größeren Menschen und Elfen hinzusetzen. Auf ihren Stühlen erreichten seine
Füße nicht den Boden, er war gezwungen, in einer würdelosen, kindischen Manier
mit den Beinen zu baumeln. In ihren Augen konnte er lesen – oder glaubte er zu
lesen –, daß sie ihn deshalb nicht ganz für voll nahmen.
Doch in Aleathas Nähe empfand er das nie. Sie
lächelte ihn an – wenn sie gut gelaunt war, natürlich – und hörte ihm
aufmerksam zu, mit scheinbarer Bewunderung für das, was er sagte und tat.
Um ehrlich zu sein, Aleatha verhielt sich zu
Drugar genauso wie zu jedem anderen männlichen Wesen – sie kokettierte. In
aller Unschuld, sogar unbewußt. Männer zu becircen, damit sie sich unsterblich
in sie verliebten, war die einzige ihr geläufige Methode, zwischenmenschliche
Beziehungen herzustellen. Und sie war gänzlich unfähig, Beziehungen zu anderen
Frauen herzustellen. Sie wußte, Rega wollte sich mit ihr anfreunden, und im
tiefsten Innern dachte Aleatha, es wäre nett, mit einer Geschlechtsgenossin zu
plaudern, zu lachen, Ängste und Hoffnungen auszutauschen. Doch schon ziemlich
früh im Leben hatte sie erkannt, daß ihre ältere Schwester Callie, unscheinbar
und herrisch, sie für ihre Schönheit haßte und darum nur um so heftiger
liebte.
Aleatha gelangte zu der Ansicht, daß andere
Frauen ebenso fühlten wie Callie – und meistens war es so. Aleatha sonnte sich
in ihrer Schönheit, warf sie Rega ins Gesicht wie einen Fehdehandschuh. Während
sie insgeheim glaubte, minderwertiger zu sein als Rega, weniger intelligent,
weniger gewinnend, weniger liebenswürdig, benutzte Aleatha ihre Schönheit als
Waffe, um die andere Frau auf Distanz zu halten.
Was Männer anbetraf, so hegte Aleatha die
Überzeugung, daß sie sich alle von ihr abwenden würden, wenn sie erst
herausfanden, wie häßlich ihr Inneres war. Deshalb machte sie es sich zur
Gewohnheit, ihnen vorher den Laufpaß zu geben, nur daß sie sich diesmal
nirgends sonst hinwenden konnte. Und das bedeutete, über kurz oder lang würde
auch Roland hinter das Geheimnis ihrer Minderwertigkeit kommen und sie hassen.
Wenn er es nicht jetzt schon tat. Nicht, daß es sie die Bohne interessierte,
was er von ihr dachte.
Ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. Sie
war einsam, so furchtbar einsam…
Drugar räusperte sich. Er saß auf der vordersten
Kante der Bank, seine Zehenspitzen berührten gerade eben den Boden. Das Herz
tat ihm weh, er verstand ihren Kummer, ihre Angst. Sie teilten ein gemeinsames
Schicksal – beide waren sie Außenseiter. In den Augen der anderen war er klein
und häßlich. In den Augen der anderen war sie zu schön. Unbeholfen tätschelte
er ihre Schulter. Zu seiner maßlosen Überraschung schmiegte sie sich gegen ihn,
legte den Kopf an seine breite Brust und schluchzte in seinen dichten schwarzen
Bart.
Drugars Herz barst fast vor Glück. Doch er
wußte, sie war in diesem Augenblick ein Kind, ein ratloses, verwirrtes Kind,
das Trost bei ihm suchte – nichts sonst. Er blickte auf die blonden seidigen
Locken, vermischt mit seinem drahtigen schwarzen Haar, und mußte selbst die
Augen schließen, um die brennenden Tränen zurückzuhalten. Er hielt sie
behutsam umfaßt, bis ihr Schluchzen verebbte, dann, um Verlegenheit erst gar
nicht aufkommen zu lassen, ergriff er schnell das Wort.
»Möchtest du gerne sehen, was ich entdeckt habe?
Im Zentrum des Irrgartens.«
Aleatha hob den Kopf, eine zarte Röte stieg ihr
in die Wangen. »Ja, das möchte ich. Alles ist besser, als gar nichts zu tun.«
Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und wischte sich die
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