Irrwege
huschte über
das faltige Gesicht.
»Doch als sie an die Tür klopften, war ich nicht
da. Ich konnte die Todgeweihten nicht im Stich lassen. Ich dachte, ich könnte
vielleicht etwas tun… Also wurde ich zurückgelassen. Auf der Erde. Ich sah es.
Das Ende. Samahs ›Große Teilung‹.«
Der alte Mann holte stockend Atem. »Keine
Rettung. Keine Rettung für die ›beklagenswerten, aber unvermeidlichen Opfer
unter der Zivilbevölkerung‹… ›Eine Frage der Prioritäten‹, hatte Samah
gepredigt. ›Wir können nicht alle retten. Und die überleben, haben es um so
besser.‹
Also ließ Samah sie sterben. Ich sah – ich sah…«
Ein krampfartiges Zittern schüttelte Zifnabs
ausgemergelten Körper. Tränen füllten seine Augen, und ein Ausdruck
unsäglichen Entsetzens verzerrte sein Gesicht – ein derart furchtbarer,
grauenhafter Ausdruck, daß selbst Xar davor zurückschreckte.
Die schmalen Lippen des alten Mannes teilten
sich, als wollte er schreien, aber kein Laut drang aus seiner Kehle. Die Augen
wurden größer und größer, sahen Schreckensbilder, an die nur er von allen
lebenden Wesen sich erinnerte…
Die Feuerwalzen, die Städte, Ebenen und Wälder
verschlangen blutrote Flüsse. Kochende Ozeane unter Dampfschwaden, die die
Sonne verdeckten. Die verkohlten Leiber der unzähligen Toten. Die Lebenden,
die blindlings flohen, doch nirgends gab es einen sicheren Hafen.
»Wer bist du?« fragte Xar ehrfürchtig. »Was bist
du?«
Der alte Mann atmete röchelnd, schaumiger
Speichel klebte an seinen Lippen. »Als es vorbei war, ließ Samah mich fangen
und verbannte mich ins Labyrinth. Ich entkam. Der Nexus, die Bücher, die du
gelesen hast – mein Vermächtnis. Das Werk meiner Hände.« Ein Ausdruck von
Stolz schlich sich auf das zerquälte Gesicht. »Das war vor der Krankheit. Ich
erinnere mich nicht an die Krankheit, aber mein Drache erzählt mir davon. Das
war die Zeit, als er mich fand, mich pflegte…«
»Wer bist du?« wiederholte Xar.
Er blickte in Zifnabs Augen – und erkannte den
Wahnsinn, der sich senkte wie ein Vorhang. Die Erinnerung verhüllte die Feuer,
den glutroten Himmel, das Grauen.
Der Wahnsinn. Eine Gnade? Oder eine Strafe?
»Wer bist du?« fragte Xar zum drittenmal.
»Mein Name?« Der alte Mann lächelte strahlend.
»Ist Bond. James Bond.«
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Kapitel 31
Die Zitadelle,
Pryan
Aleatha ging mit forschen Schritten durch das Tor
zu dem Heckenlabyrinth. Ihr Rock verhakte sich an einem Dornenzweig. Sie riß
ihn los und hörte mit einer grimmigen Befriedigung, wie der Stoff riß. Und
wenn ihre Kleider in Fetzen hingen? Was machte das aus? Sie kam doch nirgends
mehr hin, wo es Bälle gab und Picknicks, interessante und wichtige Leute. Nie,
nie wieder! Wütend und kreuzunglücklich hockte sie auf der Mannorbank und
erlaubte sich den Luxus, sich in Selbstmitleid zu ergehen. Hinter den Hecken
hörte sie die anderen weiterzanken. Roland fragte, ob man Aleatha folgen
sollte. Paithan antwortete, nein, laß sie in Ruhe, sie wird nicht weit gehen,
und was kann ihr schon passieren?
»Nichts«, sagte Aleatha trostlos. »Nichts wird
passieren. Nie wieder.«
Nach einiger Zeit verklangen die Stimmen, die
Schritte entfernten sich. Sie war allein. »Ebensogut könnte ich im Gefängnis
sitzen«, sagte sie und ließ den tränenumflorten Blick über ihre Umgebung
wandern, die grünen Wände der Hecken mit ihren unnatürlich scharfen Kanten und
Linien, streng und einschüchternd. »Nur wäre Gefängnis noch besser als dies.
Jeder Gefangene hat wenigstens die Hoffnung zu fliehen, und ich habe keine. Ich
kann nirgends hin als immer nur zu denselben Orten. Ich sehe immer nur
dieselben Gesichter. Undsoweiter, undsoweiter, undsoweiter im gleichen Trott,
all die vielen, eintönigen Jahre lang. Und wir gehen uns gegenseitig auf die
Nerven, bis wir alle wahnsinnig sind.«
Sie warf sich auf die Bank und begann bitterlich
zu weinen. Was machte es schon aus, wenn sie ganz verheult und verquollen
aussah? Sie war den anderen doch völlig gleichgültig. Keiner liebte sie. Alle haßten sie. Und sie haßte jeden einzelnen von ihnen. Inklusive diesen gräßlichen
Fürst Xar oder wie der hieß. Er hatte etwas Unheimliches…
»Tu das nicht«, sagte eine barsche Stimme. »Du
wirst noch krank.«
Aleatha setzte sich ruckartig auf, blinzelte die
Tränen weg und suchte mit fliegenden Fingern in der Rocktasche nach den Resten
ihres Taschentuchs, von dem – weil zu den
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