Irrwege
aus
den Fängen lassen wird.«
Alfred schaute Haplo aus runden Augen an. »Warum?
Warum sollte es Angst vor uns haben?«
»Du bist der einzige, der darauf die Antwort
kennt«, entgegnete Haplo.
Marit, damit beschäftigt, den geschälten Zweig
anzuspitzen, pflichtete Alfred im stillen bei. Warum sollte das Labyrinth
Angst haben vor einem Nichtigen, zwei zurückgekehrten Opfern und einem feigen,
winselnden Sartan? Und doch kannte sie das Labyrinth, kannte es so gut wie
Haplo. Es war intelligent, heimtückisch. Der Bergrutsch war ein Versuch
gewesen, sie zu töten, und als der Versuch fehlschlug, hatte das Labyrinth
ihnen den einzigen Fluchtweg abgeschnitten. Nicht, daß es ein sonderlich
aussichtsreicher Fluchtweg gewesen wäre, ohne Schiff, um sie durch das Todestor
zu bringen.
Angst. Haplo hatte recht, erkannte Marit mit
einem plötzlichen Hochgefühl. Das Labyrinth hatte Angst. Mein ganzes Leben lang
bin ich diejenige gewesen, die Angst hatte. Jetzt ist es umgekehrt. Der
Wolf fürchtet das Lamm. Nie zuvor hat das Labyrinth versucht, jemanden
auszusperren. Oft und oft hat Xar es durch das Letzte Tor betreten, und es
schien sich sogar auf das Kräfte-messen zu freuen, auf die Chance, ihn zu
vernichten. Kein einziges Mal hat es Xar den Zutritt verwehrt wie jetzt bei
uns. Und doch sind wir alle zusammen nicht annähernd so mächtig wie der Fürst
des Nexus.
Also warum? Was für eine Art Bedrohung stellen
wir dar? Ihr Hochgefühl verflog, sie fröstelte. Xar. Sie mußte mit Xar
sprechen, ihm berichten, was geschehen war. Seinen Rat einholen. Während sie
einen zweiten Ast vom Baum hackte, grübelte sie darüber nach, wie sie eine
Gelegenheit finden konnte, sich unbemerkt eine Zeitlang zu entfernen.
»Das alles hier geht über meinen Horizont«,
sagte Hugh Mordhand, der mit gerunzelter Stirn die Umgebung gemustert hatte.
»Und ich würde nichts davon glauben, wenn ich nicht gesehen hätte, wie dieser
Todesdolch zu einem eigenen Leben erwacht. Doch über Angst weiß ich Bescheid.
Angst macht einen Mann bedenkenlos, unberechenbar.« Der Assassine blickte auf
seine Hände, ein grimmiges Lächeln glitt über sein Gesicht. »Angst hat mich
reich gemacht.«
»Das Labyrinth wird genauso reagieren – bedenkenlos,
unberechenbar. Deshalb können wir es uns nicht leisten, Rast zu machen. Wir
halten uns schon zu lange hier auf.« Die Sigel an seinen Armen und Händen
schimmerten blau, durchsetzt mit Rot.
Marit sah auf die Tätowierungen an ihrem Körper
und bemerkte die gleiche Warnung. Gefahr. Nicht sehr nahe, aber auch nicht
allzuweit entfernt.
Alfred, blaß und erschüttert, erhob sich steif.
»Ich werd’s versuchen«, sagte er tapfer.
Marit zeichnete eine Heilungsrune auf den Baumstamm,
dann schnitt sie einen dritten Zweig ab. Stumm reichte sie Haplo den ersten
primitiven Speer, den sie geschnitzt hatte. Er zögerte, erstaunt und beglückt,
daß sie an ihn gedacht hatte. Als er nach der Waffe griff, berührten sich ihre
Hände.
Er lächelte das ihm eigene stille Lächeln. Das
Licht in seinen Augen, in seinem Lächeln, so schmerzlich vertraut, drang in
Marits Herz.
Aber das Licht hatte keine andere Wirkung, als
gnadenlos die Leere auszuleuchten. Sie konnte jeden Winkel ihres Selbst
erkennen, die nackten Mauern, vernagelten Fenster, verriegelten Türen.
Lieber Dunkelheit.
Sie wandte sich ab. »Welche Richtung?«
Haplo antwortete nicht sofort. Als er sprach,
war seine Stimme kalt, vielleicht vor Enttäuschung. Oder vielleicht näherte
sie sich ihrem Ziel – er begann sie zu hassen.
»Der Kamm dieses Hügels dort.« Er streckte die
Hand aus. »Von da sollten wir einen guten Rundblick haben und entdecken den
Pfad, wenn wir Glück haben.«
»Es gibt einen Pfad?« Hugh Mordhand schaute sich
ungläubig um. »Von wem stammt er? Die Gegend sieht vollkommen verlassen aus.«
»Sie ist verlassen, wahrscheinlich seit
Hunderten von Jahren. Aber ja, es gibt einen Pfad. Dies ist das
Labyrinth,
weißt du noch? Ein von unseren Widersachern planvoll erschaffener
Irrgarten.
Der Pfad führt hindurch, von einem Ende zum anderen. Der Pfad ist
der Ausweg – in mehr als einer Hinsicht. Es gibt ein altes
Sprichwort. ›Du verläßt den Pfad auf eigene
Gefahr. Du folgst dem Pfad auf
eigene Gefahr. ‹«
»Na wundervoll.« Hugh Mordhand knurrte. Er zog
die Pfeife aus einer Tasche in seinen Kleidern und betrachtete sie verlangend.
»Es gibt nicht zufällig etwas wie Stregno an
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