Irrwege
»Ich –
ich habe wirklich keine Ahnung.« Er bemühte sich, einen Blick über die Schulter
zu werfen. »Wenn – wenn es nicht zu unwahrscheinlich wäre, würde ich sagen, der
Baum hat mich eingefangen, als ich vorbeiflog. Unglücklicherweise scheint er
nicht gewillt zu sein, sich von mir zu trennen.«
»Es besteht wohl nicht die Möglichkeit, daß die
Rückennaht an deinem Frack reißt?« erkundigte sich Haplo.
Alfred verlagerte probeweise sein Gewicht, dann
begann er hin uns her zu pendeln. Der Hund setzte sich, um fasziniert das
Schauspiel zu genießen.
»Es ist ein sehr gut gemachter Rock«, erklärte
Alfred mit einem verlegenen Lächeln. »Der Hoftailleur Ihrer Majestät, Königin
Anne, fertigte mir den ersten an. Er war so bequem, und deshalb – nun ja –
deshalb habe ich ihn mir seither mehrmals nachgearbeitet.«
»Du hast ihn nachgearbeitet.«
»Ich fürchte ja.«
»Vermittels deiner Runenmagie.«
»Inzwischen kann ich das wirklich gut«,
verteidigte sich Alfred.
»Leute vom Tode erwecken und Schneidern«,
brummte Haplo. »Exakt, was ich brauche.«
Die Sigel auf seiner Haut verströmten nach wie
vor ein schwaches Leuchten, aber nun juckten und brannten sie auch. Die
unsichtbare Gefahr näherte sich. Er spähte zum Hügelkamm hinauf. Marit war
nicht zu sehen, aber damit hatte er auch nicht gerechnet. Er nahm an, daß sie
sich im Schatten eines Felsblocks verborgen hatte.
»Ich kann mich gar nicht erinnern, daß dieser
verflixte Baum so hoch war«, meinte Hugh Mordhand. Sein Blick glitt prüfend an
dem Stamm hinauf. »Auch wenn du auf meinen Schultern stehst, reichen wir nicht
an ihn heran. Warum pellt er sich nicht einfach aus seinem famosen Rock und
läßt sich fallen?…«
Der Vorschlag schien Alfred außerordentlich zu
beunruhigen. »Das halte ich für keine gute Lösung, Sir Hugh. Ich bin nicht
sehr geschickt in solchen Dingen.«
»Da hat er recht«, stimmte Haplo sarkastisch zu.
»Wie ich ihn kenne, wird er sich dabei aufhängen.«
»Kannst du ihn…« Hugh Mordhand warf einen vielsagenden
Blick auf Haplos leuchtende Tätowierungen. »… nicht herunterzaubern?«
»Von der Magie Gebrauch zu machen zehrt an
meinen Kräften, genau wie körperliche Anstrengungen deine verbrauchen. Ich
ziehe es vor, sie für wichtige Dinge zu bewahren, wie zum Beispiel unser
Überleben, statt sie für Trivialitäten zu verschwenden, wie Sartan aus
Baumwipfeln herauszuklauben.« Haplo schob das Messer in den Gürtel und legte
die Hände um den Stamm. »Ich klettere rauf und schneide ihn los. Du bleibst
hier unten und hältst dich bereit, ihn aufzufangen.«
Der Assassine schüttelte den Kopf, doch etwas
Besseres fiel ihm auch nicht ein. Er nahm die Pfeife aus dem Mund, verstaute
sie sorgsam in einer Tasche und nahm seinen Platz unmittelbar unter dem nichts
Gutes ahnenden Alfred ein. Haplo hatte sich inzwischen zu dem Ast
hinaufgearbeitet, an dem der Sartan hing, und prüfte ihn auf seine
Haltbarkeit, bevor er sich hinauswagte. Eigentlich hatte er befürchtet, der Ast
würde sein Gewicht nicht tragen, doch er war stabiler, als er aussah.
»Hat ihn festgehalten, als er vorbeiflog«,
wiederholte Haplo angewidert. Nun ja, er hatte merkwürdige Dinge erlebt, die
meisten in Verbindung mit Alfred. »Es – es ist ziemlich tief«, gab Alfred mit
zitternder Stimme zu bedenken. »Ich könnte meine Magie…«
»Deine Magie hat dich in diese verfluchte Klemme
gebracht«, unterbrach ihn Haplo, der sich lang ausgestreckt auf dem Ast
entlangschob, um sein Gewicht möglichst gleichmäßig zu verteilen.
Der Ast senkte sich. Alfred stöhnte entsetzt,
ruderte mit den Armen und zappelte. Das Holz knarrte unheilverkündend.
»Halt still!« befahl Haplo gereizt. »Deinetwegen
brechen wir uns noch beide das Genick!« Er schob den Dolch zwischen Stoff und
Zweig und begann die Naht aufzutrennen.
»Was – was hast du damit gemeint, meine Magie
hätte mich in diese Klemme gebracht?« fragte Alfred. Er hatte die Augen fest
zugekniffen.
»Dieser Sturm hat uns nicht gepackt und an den
Felsen zu zerschmettern versucht. Nur dich. Und der Berg fing erst an
einzustürzen, als du deine vermaledeiten Runen gesungen hast.«
»Aber warum?«
»Wie schon gesagt, verrat du’s mir«, knurrte
Haplo.
Er ging behutsam zu Werke, in der Hoffnung,
Alfred so schonend wie möglich nach unten zu befördern, doch plötzlich ertönte
ein leiser Pfiff. Der Laut durchbohrte ihn wie ein Pfeil aus
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