Irrwege
Erschöpfung zu spüren.
Samah, nackt, ein blutiges Muster von
Patrynrunen auf der Haut, schaute sich verwirrt um; hin und wieder flackerte
Leben in den erloschenen Augen, wenn das Schemen in den Leichnam schlüpfte.
Überwältigt von seinem großen Triumph, benötigte
der Fürst etwas Zeit, um sich zu fassen. »Lazar, sprich zu ihm.« Xar gab
dem Untoten mit zitternden Händen einen Wink. »Sprich zu ihm.« Er zog sich in
den Hintergrund zurück, um zu beobachten und sich an seinem Erfolg zu weiden.
Der Lazar, ein Mann, kam gehorsam näher. Vor seinem
Tod – ein gewaltsamer Tod, nach den dunklen Malen an seinem Hals zu urteilen –
war er jung und stattlich gewesen. Xar schenkte ihm kaum Beachtung, bis auf
einen flüchtigen Blick, um sich zu vergewissern, daß man nicht doch Kleitus
geschickt hatte.
»Du bist ein Angehöriger meines Volkes«, sagte
der Lazar zu Samah. »Du bist ein Sartan.«
»Ich bin – ich war«, antwortete die Stimme des
Leichnams.
»… ich war«, ertönte das Echo von dem gefangenen
Schemen.
»Weshalb bist du nach Abarrach gekommen?«
»Um die Kunst der Nekromantie zu erlernen.«
»Du bist nach Abarrach gekommen«, wiederholte
der Lazar mit seiner ausdruckslosen Stimme, »um die Kunst der Nekromantie zu
erlernen. Um die Toten als Sklaven für die Lebenden zu mißbrauchen.«
»Ja… Ja.«
»Aber jetzt kennst du den Haß der Toten auf die
Lebenden, die ihnen die Erlösung verwehren. Denn du siehst es, oder nicht? Du
siehst – Freiheit…«
Das Schemen wand und krümmte sich in dem vergeblichen
Bemühen, die Fessel zu zerreißen. Der Haß auf das Gesicht des Leichnams, als er
die blicklosen – und dennoch nur allzu klarsichtigen – Augen auf Xar richtete,
ließ sogar diesen erblassen.
»Du, Lazar«, warf der Fürst des Nexus in
strengem Ton ein, »wie heißt du?«
»Jonathon.«
»Gut, also Jonathon.« Der Name kam ihm bekannt
vor, doch er wußte nicht woher. »Genug geredet von Haß. Ihr Lazare seid nun
frei – frei von den hinderlichen Schwächen des Fleisches. Und ihr seid
unsterblich. Es ist ein großes Geschenk, das wir Lebenden euch gemacht haben…«
»Eines, das wir mit Freuden bereit sind zu
teilen«, sagte der Lazar dumpf.
»… zu teilen«, wisperte das Echo.
Xar zwang sich, ruhig zu bleiben, die
Tätowierungen auf seiner Haut flammten heller. »Wir verschwenden Zeit. Ich habe
viele Fragen an dich, Samah. Viele Fragen, auf die du mir antworten wirst. Die
erste und wichtigste kennst du bereits: Wo ist das Siebente Tor?«
Die Züge des toten Gesichts verzerrten sich, ein
Krampf schüttelte den Körper. Das Schemen spähte mit Entsetzen aus den glasigen
Augen. »Das wirst du nie erfahren.« Die blauen Lippen des Leichnams bewegten
sich, aber die Stimme des Schemens war zu hören. »Das wirst du nie erfahren…«
»O doch!« sagte Xar bestimmt, trotz seiner
Ratlosigkeit. Wie jemandem drohen, der keinen Schmerz empfindet, Furcht nicht
kennt? Gereizt wandte der Fürst sich an Jonathon. »Was hat das zu bedeuten? Ihr
Sartan habt die Toten gezwungen, alle ihre Geheimnisse preiszugeben. Ich weiß
es, von Kleitus selbst und auch von meinem Vasallen, der vor mir hier gewesen
ist.«
»Dieser Mann hatte im Leben einen starken
Willen«, antwortete der Lazar. »Womöglich habt Ihr ihn zu bald erweckt. Hätte
man den Leichnam für die erforderlichen drei Tage ruhen lassen, wäre das
Schemen aus dem Körper gewichen und der Wille gebrochen. So aber ist der
Widerstand, mit dem er gestorben ist, auch mit ihm erwacht.«
»Wird er meine Fragen beantworten?« forschte Xar
ungeduldig. Seine Verärgerung wuchs.
»Ja. Mit der Zeit.« Die einförmige Stimme klang
traurig. »Mit der Zeit wird er alles vergessen, was für ihn im Leben von
Bedeutung war. Was bleibt, ist nur der bittere Haß auf jene, die noch am Leben
sind.«
»Zeit!« Xar knirschte mit den Zähnen. »Wieviel
Zeit? Ein Tag? Zwei Wochen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Pah!« Xar trat dicht an Samah heran.
»Beantworte meine Frage! Wo ist das Siebente Tor?« er bemühte sich um einen
überredenden Tonfall. »Weshalb sträubst du dich? Was bedeuten dir noch die
Dinge der Lebenden? Du stellst dich nur gegen mich, weil das alles ist, woran
du dich erinnerst.«
Das Licht in den toten Augen flackerte. »Wir
haben es – fortgeschafft…«
»Lüge!« Xar verlor die Geduld. Nichts, gar
nichts entwickelte sich so, wie er es wollte. Er war zu voreilig gewesen. Er
hätte abwarten
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