Irrwege
Arianus. Eine kleine und zerbrechliche Gestalt,
hätte Hugh sie in einer seiner starken Hände zermalmen können. Sie trug die
leuchtend bunten, fließenden Seidengewänder, wie die Elfen sie liebten, und
selbst in ihrem hohen Alter umgab sie die Ahnung einer einst weit und breit
gerühmten Schönheit. Ihr Kopf war haarlos, der Schädel ebenmäßig geformt, die
Haut glatt und makellos, ein auffallender Kontrast zu dem runzligen Gesicht.
Ohne den Rahmen der Haare wirkten ihre mandelförmigen
Augen übergroß und glänzend; als sie sich herumdrehte, nicht wegen eines
Geräuschs, sondern weil alles still blieb, traf ihn der durchdringende Blick
aus jenen unergründlichen Augen wie der Pfeil, der nicht von der Sehne
geschnellt war.
»Du riskierst viel damit, daß du zurückgekommen
bist, Hugh Mordhand«, sagte Ciang.
»Nicht so viel, wie man glauben könnte«,
entgegnete er.
Seine Antwort war weder spöttisch noch
sarkastisch gemeint. Er sprach mit dumpfer Stimme, sie klang matt und leblos.
Der Pfeil, so schien es, hätte ihm nur wenig geraubt.
»Kamst du in der Hoffnung zu sterben?« Ciangs
Lippen kräuselten sich. Feiglinge waren ihr ein Greuel.
Sie hatte ihren Platz am Fenster nicht
verlassen, Hugh weder hereingebeten, noch ihn aufgefordert, Platz zu nehmen.
Ein schlechtes Zeichen. Nach dem Brauch der Bruderschaft bedeutete ihr
Verhalten, daß auch sie ihn mied. Doch er hatte den Rang der ›Hand‹ inne,
nächst ihrem ›Arm‹ der höchste in der Hierarchie der Bruderschaft. Sie würde
ihm die Gnade gewähren, ihn anzuhören, bevor sie ein Urteil sprach.
»Ich wäre nicht enttäuscht gewesen, wenn der
Pfeil sein Ziel gefunden hätte.« Hughs Miene war grimmig. »Aber nein. Ich bin
nicht gekommen, um den Tod zu finden. Ich komme, weil ich Hilfe brauche, Rat.«
»Der Kontrakt von den Kenkari.« Ciang kniff die
Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.
Obwohl er Ciang so genau kannte, war Hugh überrascht.
Wie konnte sie davon wissen? Sein Treffen mit den Kenkari – der Sekte der
Elfen, die die Seelen der Verstorbenen in ihre Obhut nahmen – war unter größter
Geheimhaltung erfolgt.
Also hatte Ciang ihre Spitzel sogar in jener
frommen Gemeinschaft.
»Nein, es ist nicht ihr Kontrakt«,
erklärte Hugh finster. »Aber sie sind es, die mich zwingen, ihn zu erfüllen.«
»Dich zwingen? Einen Kontrakt zu erfüllen
– eine geheiligte Verpflichtung? Willst du mir sagen, Hugh Mordhand, daß du
ihn nicht eingehalten hättest, hätten die Kenkari dich nicht gezwungen?«
Ciang war außer sich. Zwei rote Flecken brannten
auf ihren faltigen Wangen, sie streckte die bebende Hand aus und deutete
anklagend mit dem knochigen Finger auf ihn.
»Es stimmt also, was mir zu Ohren gekommen ist.
Du hast den Mut verloren.« Ciang machte Anstalten, sich wieder zum Fenster zu
drehen, ihm den Rücken zuzuwenden. Wenn sie es tat, war er ein toter Mann.
Schlimmer als tot, denn ohne ihre Hilfe war er nicht in der Lage, seinen
Kontrakt zu erfüllen, und das bedeutete, er starb ehrlos.
Hugh brach die Regeln. Er trat unaufgefordert
ins Zimmer und ging über den teppichbelegten Boden zu Ciangs Schreibtisch. Auf
dem Tisch stand ein Kasten aus Holz, reich mit Edelsteinen besetzt. Hugh hob
den Deckel.
Ciang hielt in der Bewegung inne und blickte
über die Schulter zurück. Ihre Züge verhärteten sich. Er hatte ihr
ungeschriebenes Gesetz gebrochen, und wenn sie sich entscheiden sollte, den
Stab über ihn zu brechen, würde das Urteil nun erheblich härter ausfallen. Doch
sie schätzte Wagemut und Verwegenheit, und dies war bestimmt die größte
Tollkühnheit, die sich jemand irgendwann in ihrer Gegenwart geleistet hatte.
Sie wartete ab.
Hugh griff in die Schatulle und nahm einen Dolch
heraus, dessen goldener Griff in Form einer Hand gearbeitet war – gestreckt,
die Finger zusammen, der abgespreizte Daumen bildete die Kreuzstange. Mit dem
Zeremoniendolch trat Hugh vor Ciang hin.
Sie betrachtete ihn kühl, mit hochmütiger
Neugier, nicht im geringsten eingeschüchtert. »Was soll das?«
Hugh sank auf die Knie. Er hob den Dolch und bot
ihn – den Griff voran, die Spitze auf seine Brust gerichtet – Ciang dar.
Sie nahm ihn; ihre Hand schmiegte sich mit
liebevoller Vertrautheit um das goldene Heft.
Hugh zog den Hemdkragen von seinem Hals. »Stoßt
zu«, sagte er mit einer Stimme wie sprödes Glas. Er sah sie nicht an. Sein
Blick ging aus dem Fenster in die hereinbrechende Dämmerung. Die
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