Isabelle
nach der Musik sehnte, die sie in ihrem Kopf gehört hatte, als Ben durch die Glastüren getreten war, im Restaurant und in seinem Auto, und als sie zusammen über den Deich spaziert waren. Bis alles aufgehört hatte.
Mein Gott, dachte sie. Ich kann es nicht auseinander halten. Ich kann nicht an Ben denken, ohne das Blut zu sehen.
Sie ging nur zu den Mahlzeiten hinunter. Sie hatte keinen Hunger, aber Tante Maran zwang sie zum Essen. Alles erschien ihr farblos und fade, als habe jemand das Licht ausgeschaltet. Morgens Tee, Mischbrotschnitten mit dünnen Rauchfleischscheiben und dicker, runder Zwieback, um zwölf Uhr ein Brötchen und eine Tasse Bouillon, abends Kartoffeln und Gemüse, Gehacktes, Fisch vom Markt, ein Kotelett vom Metzger. Sie saß in dem erdrückenden Wohnzimmer mit der Plüschtischdecke und den Häkelkissen auf den grünen Sesseln und dem Sofa, das auf einer Seite schon ganz verschlissen und eingesunken war, weil Tante Maran seit hundert Jahren dort saß, auf ihrem festen Platz, mit einer Häkelarbeit vor dem Fernseher.
Tante Maran sprach nicht darüber. Sie redete nur über Dinge, die den Haushalt betrafen, dass sie einkaufen gehe und ob Isabelle vielleicht in der Zwischenzeit die Kartoffeln schälen könne. Manchmal spürte Isabelle ihren Blick. Sie konnte ihre Gedanken erraten. Sie erschienen ihr eher traurig als vorwurfsvoll. Es waren simple Gedankengänge über ihre Mutter, die sich von Männern hatte verführen lassen, und die Tochter, die ihrem Beispiel gefolgt war. Das Leben reduziert auf einen Zeitungsartikel. Tante Maran war siebzig Jahre alt und Isabelle konnte sich nicht vorstellen, wie sie als junges Mädchen ausgesehen hatte, geschweige denn als ein junges Mädchen, das sich bis über beide Ohren in jemanden verliebte und unbesonnene Dinge tat.
Am Samstagabend blieb Isabelle bei ihr und sah sich mit ihr zusammen einen Fernsehfilm an, anstatt sofort nach dem Kaffee nach oben zu gehen, wie sie es die ganze Woche über getan hatte. Sie schauten sich die Wiederholung eines alten Films an, Zeit des Erwachens, und Isabelle vertiefte sich gegen ihren Willen in die Handlung und bekam feuchte Augen, als das Mädchen den hilflosen Robert de Niro, der seinen Verstand erneut verlor, von seinem Stuhl zog und anfing, mit ihm zu tanzen.
Isabelle schrak auf, als Tante Maran den Fernseher ausschaltete. »Aber der Film war doch noch nicht zu Ende«, sagte sie.
Tante Maran nickte. Sie sah ihre Nichte an, als habe sie lange über das nachgedacht, was sie jetzt sagen wollte. »Vielleicht solltest du erst beichten, bevor du morgen zum Abendmahl gehst«, meinte sie dann.
Einen Moment lang war Isabelle sprachlos und stammelte dann: »Zum Abendmahl?«
»Du gehst doch zur Kirche, oder?«
»Ich …« Isabelle fehlten die Worte. Meistens ging sie einmal im Jahr zusammen mit ihrer Tante zur Beichte, an einem der Nachmittage vor Ostern, mehr um ihrer Tante einen Gefallen zu tun, als aus ihrem eigenen Bedürfnis heraus. Außerdem kam sie jeden Sonntag mit zum Hochamt. Diese Gewohnheit hatte sie nur in der Zeit unterbrochen, als sie mit Gerard zusammen gewesen war, der von Glaubensdingen nichts wissen wollte. Danach begleitete sie ihre Tante sonntags wieder, zunächst aus Pflichtgefühl, allmählich aber mit wachsendem Vergnügen, weil das Hochamt für sie zu einer Art Ruhepunkt wurde, über dem sie den Rest der Woche vergessen konnte. Zum einen mochte sie das spezielle Sonntagsgefühl, zum anderen hatte die Kirchengemeinde einen guten Organisten und einen schönen Chor, und auch die Predigten waren meistens recht interessant, sodass sie ihnen gerne zuhörte und darüber nachdachte. Isabelles Gott sah allerdings anders aus als der von Tante Maran. Ihr Gott war ein Gefühl, so ein Gefühl, wie es die Menschen erfüllte, wenn sie einander anlächelten. Sie hatte es nie als Gebot oder als Verpflichtung betrachtet, zur Kirche zu gehen, und hatte dies auch nicht mit Gewissensfragen verknüpft, wie Tante Maran es ihr jetzt antrug. Und mit ihren fünfundzwanzig Jahren fühlte sie sich alt und klug genug, darüber selbst zu entscheiden.
»Was sollte ich denn zu beichten haben?«, fragte sie widerspenstig.
»Frag mich nicht. Ich war nicht dabei.«
Isabelle wurde wütend. »Ich weiß, was du denkst«, erwiderte sie gereizt. »Aber ich habe keinen Grund, mich schuldig zu fühlen. Und außerdem ist das meine Sache.«
Sie wollte noch mehr sagen, merkte aber, dass wohl nur noch zerbrochenes Geschirr ihren Gefühlen
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