Isabelle
hätte Ausdruck verleihen können. Abrupt stand sie auf und sagte: »Es tut mir Leid, dass ich dir so viele Unannehmlichkeiten bereitet habe.« Dann verließ sie fluchtartig das Wohnzimmer und stieg die knarrende Treppe mit dem braunen Läufer und den Teppichhalterstangen aus Kupfer hinauf. Sie schloss ihre Zimmertür und ließ sich aufs Bett fallen, allein mit dem alten Klavier, ihren Büchern, ihren Kleidern im Schrank und ihren Erinnerungen – und den Albträumen, die sie erwarteten.
6
Sie sahen friedlich aus. Ein Lächeln umspielte den Mund der alten Frau, vielleicht eine Folge der Leichenstarre, die sich nicht immer auf vorhersehbare Weise manifestierte. Doch wenn man die beiden so nebeneinander auf dem Rücken im Bett liegen sah, ordentlich im Schlafanzug, Hand in Hand, schien ihr Tod jedenfalls eine konsequente Folge sorgfältiger Überlegungen zu sein, als hätten sie sich mit dem Unabwendbaren abgefunden und ihren Frieden mit ihrem Entschluss gemacht, den sie anschließend mit derselben Sorge um Details und Ordnung ausgeführt hatten, die aus der Einrichtung ihres Schlafzimmers sowie des ganzen übrigen Hauses sprach. Sie hatten sich ausgezogen, ihre Kleidung weggehängt und sich die Zähne geputzt. Sie hatten sich ins Bett gelegt und die Tabletten geschluckt. Das Fläschchen stand auf einem der Nachtschränkchen, daneben ein Glas und eine halb leere Flasche Mineralwasser. Das Laken war über die Kante der pastellgrünen Daunendecke geschlagen und glatt gestrichen, als hätten sie ein ordentlich gemachtes Bett hinterlassen wollen. Es war vor allem ihr Werk gewesen, dachte Max Winter bei sich. Ihr Entschluss. Der Mann litt an Alzheimer, deshalb standen das Fläschchen, das Glas und das Wasser auf ihrer Seite des Bettes. Vielleicht hatte sie noch einen letzten Blick auf das Wrack geworfen, zu dem ihr Gatte geworden war, und hatte in sich hineingehorcht, um sicherzugehen, dass die Krebsschmerzen immer noch da waren und nur noch schlim mer werden konnten, bis sie auch mit Morphium nicht mehr beherrschbar wären. Das Kinn ihres Mannes wies Spuren von eingetrocknetem Speichel auf. Sie hatten ge nügend Gründe gehabt, sich davonzustehlen, ob er nun damit einverstanden gewesen war oder nicht.
Ihre Tochter saß unten im Wohnzimmer, in einem Ge fühlswirrwarr von Trauer und Argwohn, wobei Letzterer überwog.
»Alzheimer und Krebs«, murmelte der Ermittler Si mons. »Wenn es das ist, wonach es aussieht …«
Max Winter nickte. »Es ist das, wonach es aussieht.«
Manche Menschen hatten gelernt, den Tod statistisch zu betrachten, und konnten den Schmerz, der dazugehör te, von sich abschütteln. Solche Reaktionen sah man in den Augen vieler Polizisten. Doch Max spürte diesen Schmerz noch immer, als führe ihn jeder Tote einen Schritt näher an seinen eigenen Tod heran oder rufe in ihm Schuldgefühle wach, in Erinnerung an einen anderen Todesfall. Er fand kaum Trost in dem Gedanken, dass das Ehepaar sich aus freiem Willen für eine schmerzlose Wei se des Einschlafens entschieden hatte. Er hatte hier nichts mehr verloren.
Der Gerichtsmediziner kam herein, gefolgt vom Foto grafen und einem Mann von der Spurensicherung. Der Arzt zog eine Augenbraue hoch, als er Max Winter er kannte. »Was machst du denn hier?«
»Das wollte ich ihn auch gerade fragen«, sagte Simons. Er bedeutete Max, ihn aus dem Schlafzimmer zu beglei ten, und blieb an einem Bleiglasfenster auf dem Flur ste hen. »Also, warum bist du hier?«
Max hatte noch nie Grund gehabt, seinem früheren Kollegen etwas zu verschweigen. »Die Tochter hatte den Verdacht, ihre Mutter stehe unter dem Einfluss eines Arztes, der ihr das Erbe abspenstig machen wollte. Aber da steckt nichts dahinter.«
»Arbeitest du für Meulendijk?«
»Ja. Mal wieder einer dieser Paranoia-Aufträge, die un ser Exstaatsanwalt mit Vorliebe mir aufhalst. Ich bin im mer noch als freier Mitarbeiter für ihn tätig.«
Bart Simons schnaubte. »Woher willst du wissen, dass an dem Verdacht gegen den Arzt nichts dran ist?«
»Er ist der Hausarzt. Die Frau hat ihn um Adressen gebeten, und er hat ihr die einschlägigen Krebsfor schungsinstitute empfohlen, falls sie ihr Geld denn unbe dingt loswerden wolle. Rede doch selbst mal mit ihm.«
»Aber warum wendet sich die Tochter an dich, statt zuerst die Polizei zu informieren?«
»Sie war eben durcheinander.«
»Weil sie ihr Erbe los ist?«
Max zuckte mit den Schultern. »Es ist die übliche Geschichte, du kennst das ja«, erklärte
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