Isabelle
er geduldig. »Die Eltern werden hilfebedürftig und fallen zur Last, die Kinder führen ihr eigenes Leben und verlieren die Lust, sie jeden Tag zu besuchen, geschweige denn zu versorgen, man entfremdet sich, vielleicht stand man sich auch vorher schon nicht sehr nahe, was weiß denn ich? Vielleicht glaubte die Mutter, Schenkungen seien steuerfrei. Aber was immer sie auch gedacht hat: Es war ihr Geld, und sie hatte keine Lust, alles ihrer Tochter zu hinterlassen. Ich habe keinerlei Unregelmäßigkeiten entdecken können. Sie hat eine halbe Million verschenkt, ich habe die Papiere gesehen. Es war ihre Entscheidung, der Rest sind Familienangelegenheiten. Es würde mich wundern, wenn du zu einem anderen Schluss kommen würdest.« Sein Piepser meldete sich. Er warf einen kurzen Blick darauf und schaltete ihn aus.
»Selbstmörder hinterlassen doch normalerweise einen Abschiedsbrief«, bemerkte Simons. »Die beiden nicht, und das kommt mir komisch vor.«
»Briefe schreibt man, wenn es etwas zu erklären gibt. Aber was gab es da noch zu erklären?«
»Hast du schon mit der Tochter gesprochen? Schließlich ist sie deine Klientin.«
»Ach Bart, hör schon auf. Ich bin hier fertig.«
Max tippte seinem Expartner kurz an die Schulter und machte, dass er wegkam. Im Auto rief er Meulendijk unter dessen direkter Durchwahl an.
»Einen Augenblick, bitte«, sagte der frühere Staatsanwalt, und Max hörte, wie er etwas zu jemandem in seinem Büro sagte, bevor er in die Warteschleife geschaltet wurde. Zehn Sekunden später meldete sich Meulendijk von einem anderen Apparat aus.
»Ich habe hier jemanden im Büro«, sagte er. »Aber erst mal kurz zu der Sache Celia Beulings. Ich höre gerade aus dem dritten Stock …«
Die Scanner im Computerraum. »Richtig gehört. Die Eltern haben ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt. Celia kann gerne zusammen mit ihrem Steuerberater zum Notar gehen, dann wird sie schon sehen, dass nichts unter der Hand verschwunden ist.«
»Schreib mir einen Bericht. Etwas anderes, in meinem Büro hier nebenan sitzt eine Dame, Judith Colijn …«
Meulendijk besaß die störende Angewohnheit, seine Sätze nicht zu Ende zu sprechen, aber diesmal wirkte sein Zögern beabsichtigt.
»Wieder so ein Auftrag wie der hier?«, fragte Max spöttisch.
Meulendijk hüstelte in den Telefonhörer. »Ich gebe ihr deine Adresse. In einer halben Stunde kann sie bei dir sein.«
Plötzlich fiel Max ein, woher er den Namen Colijn kannte. Vor einem Monat hatte er in den Zeitungen gestanden. »Willst du damit sagen, dass ich sie als Privatklientin übernehmen kann und nicht wie sonst in deinem Auftrag?«
»Das erschien mir am günstigsten.«
»Ich kann dir nicht folgen.«
»Es ist nur eine Kleinigkeit …«
»Ein Mord, bei dem die Polizei völlig im Dunkeln tappt: Das nennst du eine Kleinigkeit?«
»Es geht nicht um den Mord. Die Dame hätte gern eine Akte über diese junge Frau, und ich hielt es für übertrieben, dafür die ganze Maschinerie hier …«
»Du meinst die Serviererin?«
»Wenn du nicht willst, schicke ich jemanden von uns … Aber soweit ich weiß, hast du gerade Zeit …«
»Schick sie vorbei«, sagte Max beschwichtigend.
Die Frau gab sich kaum Mühe, ihre Missbilligung zu verbergen, als Max sie in sein Büro einließ. Voller Skepsis blickte sie sich um und studierte kritisch das brüchige Leder seines Besucherstuhls, bevor sie sich in ihrem makellosen Rock darauf setzte. Max Winters Büro, in dem nur selten sauber gemacht wurde, bildete einen ziemlichen Kontrast zu dem erstklassigen Interieur bei Meulendijk. Max’ erster Eindruck von Judith Colijn war, dass sie generell die Angewohnheit hatte, Möbel wie Menschen mit einem Blick zu mustern, als könne sie sich durch sie beschmutzen. Das Nächste, was ihm auffiel, und zwar ganz deutlich, war ihre Verbitterung.
Sie war eine schlanke blonde Frau, mit der man sich überall sehen lassen konnte, etwas, was sie wahrscheinlich von ihm keineswegs dachte. Das Attraktivste an ihrem Gesicht war die leicht schief stehende Nase, aber Max wusste, wie die meisten Endvierziger, dass hübsche und anziehende kleine Makel einem auf die Nerven gehen konnten, glich die Ehe erst einmal einer in Scherben gegangenen und wieder geklebten Teetasse. Der Bruch blieb sichtbar, und im Laufe der Zeit kamen immer mehr dazu, bis das ehemals hübsche Äußere hinter einem Netz von Sprüngen und Leimspuren in Vergessenheit geriet. Und zu dem Vergessenen gehörten in einer solchen Ehe auch
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