Isabelle
schwanger.«
»Ja, das kommt noch dazu.«
»Machst du dir deswegen Sorgen?« Nel grinste wieder. »In der Geschichte wimmelt es nur so von Onkeln, die ihre Nichten geheiratet haben, nicht nur in der Türkei, und den Kindern fehlte in der Regel nichts. Anton Müssen hat doch in der Nazizeit sogar behauptet, es sei umgekehrt. Hat er nicht gesagt, man müsse seine Tante heiraten, wenn man ein starkes Volk aufbauen will?«
»Das ist es nicht, worüber ich mir Sorgen mache«, sagte Max.
Nel nickte. »Ich weiß genau, worüber du dir Sorgen machst, aber ich glaube, das brauchst du nicht. Ich glaube nämlich, das Krankenhaus hat die Geburt gar nicht erst erwähnt, weil Amanda schon im Krankenwagen gestorben ist, nachdem sie das Kind bereits zur Welt gebracht hatte, und zwar an einem anderen Ort. Didier weiß von nichts.«
»Ich wünschte, ich könnte da ganz sicher sein.«
»Max, jetzt komm schon.« Ungeduldig klopfte sie mit dem Griff der Gabel neben ihrem Teller auf den Tisch. »Die beiden einzigen lebenden Erben lagen zusammen in einem Bett, aber nur einer von ihnen wurde ermordet. Du weißt genauso gut wie ich, warum. Ein Profikiller führt nur seinen Auftrag aus, es sei denn, er ist gezwungen, einen Zeugen zu beseitigen. Das war aber nicht der Fall.« CyberNel fischte ein kalt gewordenes Stück Tomate von der Platte und sagte: »Du brauchst nur Stillschweigen zu bewahren, auch gegenüber Judith Colijn. Isabelle ist in Sicherheit, solange niemand weiß, dass sie erbberechtigt ist. Sobald der Mordfall aufgeklärt ist, geht alles seinen Gang. Wenn Didier nichts mit dem Mord zu tun hat, wird er Isabelle höchstens juristisch Schwierigkeiten ma chen. Hat er etwas mit dem Mord zu tun, wandert er hinter Gitter, und Isabelle kann ohne Risiko ihr Erbe einfordern.«
In Nels Computerhirn fügte sich alles logisch zusam men. »Ich hoffe, du bist nicht nur ein kluges Mädchen, sondern auch eine gute Schauspielerin«, sagte Max.
Nel saß in der leeren Kneipe, nippte an ihrem Gin Tonic und versuchte die Gedanken der dicken, ziemlich herrisch wirkenden Frau hinter dem Tresen zu erraten. »Ich heiße Tilly«, sagte die Frau. »Dich habe ich hier noch nie gese hen.«
»Hier ist es trockener als draußen«, sagte Nel.
»Bist du am Arbeiten?«
»Im Moment nicht.«
Tilly wischte mit einem Tuch über die Bar. »Ich will dich lieber nicht fragen, was für einem Gewerbe du nach gehst, aber hier gibt es Typen, die dafür sorgen, dass die Mädchen sich an ihren eigenen Bezirk halten.«
Nel kicherte. »Sehe ich wie so eine aus?«
Die Frau musterte Nels schwarzen engen Pullover un ter dem Mantel mit dem Fellkragen, den sie sich locker um die Schultern gelegt hatte, und sagte: »Heutzutage kann man nie wissen. Ich wollte dich nur warnen.«
»Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen.«
Die Frau nickte. »Ja, ja, das sagen sie alle.«
»Gemütlich, Ihre Kneipe«, sagte Nel munter. »Aber wo bleiben die Gäste?«
»Wenn’s kalt ist, läuft der Laden, aber Regen ist schlecht fürs Geschäft. Warte nur, die kommen schon noch. Siehst du, da ist schon der erste.«
Ein Mann schloss seinen Regenschirm, während er zu sammen mit einer nassen Windböe hereinkam. Nel zweifelte nicht daran, dass es sich um De Canter handelte. Er war nicht gerade gut aussehend, hatte eine gedrungene Gestalt, mit eigenartig tief liegenden Augen in einem grob geschnittenen Gesicht, aber wenn er sich ein Lä cheln abgerungen, sich in einen Konfektionsanzug ge zwängt und sich eine Aktentasche unter den Arm ge klemmt hätte, hätte man ihn für einen Gerichtsvollzieher halten können oder für jemanden, der für einen Rechts anwalt Recherchen erledigt. Sie grüßte ihn mit einem kurzen Nicken.
»Tag, Tilly«, sagte er und kam auf Nel zu. »Hatten Sie mich angerufen?«
Nel rutschte von ihrem Barhocker, nahm ihr Glas vom Tresen und deutete mit einem Nicken auf die runden, hohen, am Boden festgeschraubten Tische weiter hinten.
De Canter bestellte ein Bier und ging zur Musikbox. Er warf Münzen in den Apparat und drückte auf ein paar Knöpfe. Elvis Presley. Er nahm sein Pils mit zu Nel, die den am weitesten entfernten Tisch ausgesucht hatte.
»Wie war noch Ihr Name?«, fragte er, während er sich auf den Barhocker ihr gegenüber schwang und seine Füße auf die Reling rund um das Bein stellte.
»Ich habe meinen Namen noch nicht genannt«, antwortete Nel.
»Ich lasse mich bei so einem Mistwetter nicht oft von jemandem, den ich nicht kenne, hinter meinem
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