Isarhaie: Der vierte Fall für Max Raintaler (German Edition)
Affenzahn
hingeknallt und danach lieber mit Max’ elektrischer Eisenbahn gespielt. Oder
sie hatten eine wohnungsweite Kissenschlacht begonnen. Willi hatte mit seinen
Eltern in einer kleinen Zweizimmerwohnung ums Eck gewohnt. Er hatte Max nur
einmal dorthin mitgenommen. Willis arbeitsloser Vater war an diesem Tag
betrunken gewesen. Danach hatte Willi Max nie wieder angeboten, mit ihm zu sich
nach Hause zu gehen. Er hatte sich offensichtlich für die Enge und seine Eltern
geschämt. Max hatte das nie verstanden. Auch wenn seine Eltern noch so arm
gewesen wären, er hätte sie trotzdem immer nur geliebt. Obwohl es ihn
wahrscheinlich auch peinlich berührt hätte, wenn sie bereits tagsüber betrunken
gewesen wären. Und jetzt war Willi tot, genau wie seine Eltern und Max’ Eltern.
Einfach so von der Bildfläche verschwunden. Für immer.
Nicht
zu verstehen, das Leben. Und der Tod genauso wenig. War am Ende das alles hier
völlig sinnlos? Für Max sah es im Moment zumindest danach aus. Nichts erfüllte
ihn. Nichts war wichtig. Außer der Hitze vielleicht. Er bemerkte, dass er zu
schwitzen begann. Durst hatte er auch. Ein kühles Bier wäre jetzt genial
gewesen. Lebten wir am Ende nur dafür? Für den Schweiß und das Bier? Oder war
da noch mehr? Es gab da ja zum Beispiel auch noch den Schweinsbraten in
Dunkelbiersoße mit Kartoffelknödeln, was so gesehen prinzipiell erst einmal
nichts Schlechtes war. Gar nichts Schlechtes. Schweiß, Bier und Schweinsbraten.
Lohnte es sich wirklich, nur dafür zu leben? Nun, wenn man es einmal ganz genau
bedachte, warum eigentlich nicht? Er bemerkte eine Krähe, die mit dem Schnabel
ein großes Stück glänzendes Alupapier aus einem Abfalleimer zupfte. Und
Schokolade. Für Schokolade lohnte es sich ebenfalls zu leben. Aber nur
Vollmilch Nuss. Alles andere taugte nichts. Trauben und Krokant darin schmeckte
ekelhaft, Zartbitter war zu bitter, weiße Schokolade klebte nur am Gaumen fest,
und Marzipan war viel zu süß. Der reine Zucker.
Er
lehnte sich vor dem Friedhofstor an den Stamm einer Kastanie, um auf Franz und
Josef zu warten. Sport könnte er auch mal wieder treiben. Dafür lohnte es sich
ebenfalls zu leben. Unbedingt. Seit er als Trainer bei seinem Tennisclub in
Sendling gekündigt hatte, weil man dort versucht hatte, ihn um seinen
wohlverdienten Lohn zu betrügen, blieben ihm im Moment auf jeden Fall der
Fußball beim FC Kneipenluft, private Fahrradtouren und im Winter das Skifahren.
Joggen hasste er, und vom Tennis hatte er generell erst einmal gründlich die
Nase voll. Selbst für einen ausgebufften Exkommissar wie ihn war es eine
erstaunliche Erfahrung gewesen, zu beobachten, wie kriminell und mies sich
bestimmte Leute verhalten konnten, obwohl man etliche Jahre freundschaftlich
mit ihnen im selben Sportverein verbracht hatte. Aber ganz offensichtlich gab
es die asozialen Existenzen dieser Welt, die bei allem, was sie taten,
ausschließlich an ihr Ego und ihren Profit dachten, auch hier. Wo waren sie nur
hin, die viel beschworenen, guten alten Tugenden des Sports? Wo fand man heute
noch Menschlichkeit, Zusammenhalt und Kameradschaft? Gab es das überhaupt noch?
Auf jeden Fall nicht in Sendling im Tennisclub. So viel war sicher. Egal. Wozu
sollte er sich weiter darüber aufregen? Reine Zeitverschwendung.
Lieber
fragte er sich, wie es wohl dazu hatte kommen können, dass Willi nach seiner
Pleite als Unternehmer dermaßen abgestürzt war. Der kleine Willi, der früher
immer so gern nach der Schule mit zu ihm nach Hause gegangen war. Wer hatte ihn
wohl zu Fall gebracht? Etwa dieselben rücksichtslosen Egoisten, wie Max sie im
Tennisverein kennengelernt hatte? Es sah ganz danach aus. ›Erst ich und dann
die anderen, nach mir die Sintflut, wer schwächelt, fällt dem Darwinschen
Prinzip der natürlichen Auslese zum Opfer.‹ Das waren doch die beliebten
Leitsätze, die man heutzutage hörte. Hatte er sie am Ende auch schon zu seinen
eigenen gemacht? Teilweise bestimmt. Siehe Marias 200.000 Euro, die er einfach so an sich
genommen hatte. Ganz richtig war das sicher nicht. War das am Ende inzwischen
die neue Form unseres Zusammenlebens? Nur noch auf den eigenen Vorteil bedacht?
Taub und blind den Bedürfnissen und Nöten anderer gegenüber? Möglich. Doch,
doch. Auf jeden Fall. Scheißgesellschaft? Scheißwelt? Scheißraintaler? Es sah
ganz so aus. Im Grunde genommen konnte Willi froh sein, dass er endgültig aus
dem Spiel war.
Vielleicht
gab es irgendwo da oben im Weltall
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